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Berlin, Ecke Schönhauser. Ein Bild von 1985, als die kaputte Welt noch in Ordnung war. Foto: Ullstein bild - ADN-Bildarchiv

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Abgesang: Prenzlauer Berg hat sich als kreative Nische erledigt

Ein Abgesang auf den Prenzlauer Berg – und eine Erinnerung an den großen Dichter Adolf Endler.

Es soll einmal eine Zeit gegeben haben, da sind die Menschen, die Künstler selbstverständlich auch, die Besten der Besten, beinahe in Agonie verfallen. Es hätte wahrhaft nicht viel gefehlt und die Menschen wären in jener angesagten Region verblödet. Zu reden ist von Prenzlauer Berg, dem Stadtbezirk mit auffallend hohem Künstleranteil, was allein schon verschiedenste Ängste, Größenwahn und existenzielle Auswüchse mit sich bringt.

Unterstellung schafft Misstrauen, Schuld, Außenpolitik. Die seelische Unruhe Einzelner ruft den Staat auf den Plan. Die Ministerien bilden Fettaugen aus, heuern Schleifsteine an, schicken Hornochsen und Hornissen. Der Kampf ums Eigene führt geradewegs in die Pantomime. Der Kampf um die internationale Anerkennung beginnt mit der Gedichtzeile dessen, der hohnlacht. Hohnlachen schafft die schönsten Balladen. Und: Die Liedermacherei ist eine völlig überbewertete Kunstform. Losungen fordern Schmähreden heraus. Chorgesang bedient sich übler Nachreden. Hetze wird Koloratur. Der stumme Schrei ist immer noch Widerstand im Kleinen.

Wie was zu dem wurde, zu dem es geworden ist, von dem wir meinen, es zu kennen: Die Prenzlauer-Berg-Szene muss endlich als das gewertet werden, was sie von Beginn an war – ein überladener Frachter, ein Hirnschiff, eine Barkasse, die sich selbst für etwas Größeres hielt. Gechartert von einer Crew, die sich als Ziel der Reise sah und nach außen vorgab, nach A. R. Penck-Hausen unterwegs zu sein. A wie Anmut, Anhöhe, Anarchie. R wie Ruhe, Ruhm und Rum. Man wird vielleicht staunen, was von all dem Seemannsgarn später noch in den Geschichtsbüchern vermerkt ist. Oder man wird vergeblich suchen, und niemand wird je nachvollziehen können, worum es einmal ging, als es um etwas zu gehen schien, was wirklich wichtig war; so wichtig, dass es vergessen wird. Die Chancen für ein völliges Vergessen stehen unerwartet gut.

Spätestens mit dem Tod von Adolf Endler im vorigen Jahr – er hätte am Montag seinen 80. Geburtstag gefeiert – hat sich der Prenzlauer Berg als kreative Nische erledigt. Vom ganzen Rummel bleibt am Ende nur die Erinnerung, eine anrührend flimmernde Fassade. Und ein paar Namen werden bleiben. Manch eine Aktion verdient das Prädikat engagiert, nicht ohne einen gewissen Charme. Es wurde gesungen, gemalt, gelesen, gefetet, gekrochen, geröhrt, gestottert, gehauen. Es wurde gestochen, geschwiegen, gerockt und mitunter richtig gut gemeinsame Sache gemacht. Aber immer auch gleich dokumentiert. Mitunter war das Dokumentieren von Aktivität die Aktivität schlechthin. Oft fanden die Protagonisten in großer Gruppe zusammen. Per Familienfoto in ausgeklügelter Aufstellung dokumentiert. In geräumigen Zimmern, anheimelnden Küchen. Hier und da bildeten sich zarte Grüppchen, streitbare Kleinstkollektive, kunsthandwerkliche Freundschaftsgruppen.

Man wollte schon etwas tun, gegen etwas sein, den Staat anknurren, die Bonzen spießen, Spießer peitschen, Bürger schrecken. Nur bringt das, was nachhaltig genannt werden kann, eine arg magere Ausbeute. Das Fazit lautet: Mehr als gewesen ist, ging nun wirklich nicht. Mehr als nicht geworden ist, kann nicht aufgelistet werden. Was wer gemeint, gesagt, gewollt, bewiesen hat, wo der Hebel hätte vielleicht angesetzt werden sollen, das ist nicht mehr von Bedeutung. An welchem Tag eventuell wer wem in die Suppe hätte spucken müssen, lässt sich am Kneipentisch zum x-ten Male erzählen. Wer Ohren hingehalten bekommt, darf sie ruhig stopfen.

Foto:

© gezett

Bloß, mit dem Mauerfall bekam das Leben in Prenzlauer Berg und darüber hinaus eine ganz andere Sinnlichkeit übergeholfen. Die früheren, jedermann in der Sackgasse dienlichen Grundlagen und begünstigenden Lebensbedingungen zum Schaffen wie zum Erhalt und Ausbau von Kunst sind abgeschafft. Anstelle von Muße und Kopfanarchie stülpten sich die Komponenten des ganz gewöhnlichen kapitalistischen Alltags über uns, als wären wir alle nur Einkaufstüten und Einwegflaschen.

All die neuen, ungefragt jeden freien Platz besetzenden Hirsche trugen zu ihren Machenschaften ein Gesicht. Die ernüchternde Brutalität der Veränderung zum deutschen Gesamtwesen verteilte Visitenkarten, tönte von Plakaten, Briefkastenzetteln, gab voll den Ton an, überstimmte alles und jedermann, machte gestandene Leute zu Wabbelmasse. Der Pudding der Apokalypse, wie einer von Endlers Gedichtbänden heißt. Oder um jetzt hintereinanderweg einmal mit den Buchtiteln Adolf Endlers treu in chronologischer Reihung zu kommentieren: Es zog eine Zeit auf, die den Morgenruf Erwacht ohne Furcht gebraucht hätte, den Weg in die Wische anzutreten, wo es galt, das Sandkorn zu finden, das ins Getriebe geworfen gehört, den Lauf der Dinge zu stören. Denn wir wollen nicht die Kinder der Nibelungen sein, Verlierer in diesem besseren Land. Nackt mit Brille. Man hat immer Zwei Versuche, über Georgien zu erzählen. Das Leben ist ein langer Reisebericht. Verwirrte klare Botschaften erreichen uns eh nur über die Gedichte, die Nadeln sind in Nadelkissen. Oder uns spricht Prosa an, der Akte Endler entnommen, Gedichte aus 30 Jahren, die einer nur schrieb und einer nur schreiben konnte, der Tarzan am Prenzlauer Berg war, der Tagebuch führte, ohne Nennung von Gründen, Prosa stapelte, Prosa stach, wie man Torf sticht, Schichtenflotz zu erlangen, die pflanzliche Absonderung, die durch innerliche Austrocknung hart wird, im Lebenskamin lodert.

Denn das Leben ist für den, der es zu gestalten weiß, eine Fortsetzungszüchtigung, gegen die wir alle anzulaufen haben, die wir ein bisschen vom Schlag der alten Griechen sind: „Und weiter sah ich den Sisyphos in gewaltigen Schmerzen: wie er mit beiden Armen einen Felsblock, einen ungeheuren, fortschaffen wollte. Ja, und mit Händen und Füßen stemmend, stieß er den Block hinauf auf einen Hügel. Doch wenn er ihn über die Kuppe werfen wollte, so drehte ihn das Übergewicht zurück: Von neuem rollte dann der Block, der schamlose, ins Feld hinunter. Er aber stieß ihn immer wieder zurück, sich anspannend, und es rann der Schweiß ihm von den Gliedern, und der Staub erhob sich über sein Haupt hinaus“ (Homers Odyssee, 11. Gesang, 593–600. Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt).

Vorbildlich schleimlösend, nicht Homer, der auch, nein, die späte Prosa Adolf Endlers, als er zu Essays sich aufschwang, die keine Fragen mehr offenlassen. Die Antwort des Poeten sind die besten Sudelblätter, deren einer schreibend fähig ist. So etwas wie die rücksichtloseste Warnung vor Utah, das absolute Einreiseverbot in Form des lockendes Reisebuches. Da hat einer nun endlich das Greisenalter erreicht, kann ungestört, unbehelligt, ja vielleicht auch nur noch auf den schnöden Nachruhm hinaus ins nahezu leere, verwaiste All schweigen, schreiben, reden. Alte und neue Gedichte streiften uns, ob nun in Aschersleben wohnhaft oder im Arsch der Welt. So sieht sie nun einmal aus: Eine deutsche Karriere auf der künstlerischen Ebene durch Täler, den Höhen zu, nur über die Krähenüberkrächzte Rolltreppe zu erreichen, für Nicht-Insider hier einmal fast beamtisch gesprochen: Neunundsiebzig kurze Gedichte aus einem halben Jahrhundert genügen für den Anfang aufs Ende zu. So weit Endler original in Titeln und Thesen.

Um zu wissen, wie es sich mit der Zunge angefühlt hat, um zu fühlen, wie es zum Ohr hinein im Hirnkosmos verrauschte, hier ein Zitat Endlers aus seiner Rede zum Bremer Literaturpreise im Jahr 2000: „Ich selber auch wundere mich ja zuweilen über die halsbrecherisch anmutende Zickzackroute, die ich nicht nur zwischen den extremen Polen Sozialistischer Realismus und Dadaismus/Surrealismus, sondern nicht minder zwischen Mecklenburg und Oberlausitz, Berlin-Mitte und Leipzig-Connewitz gekurvt bin. Schon als Dreißigjähriger, ich erinnere mich genau, habe ich mich manchmal gefragt: Na, ob du das noch lange aushältst? Und auch heute stehe ich von Zeit zu Zeit vorm Spiegel und prüfe mein nunmehr zerknittertes Auge: Wie ist es möglich, daß du überhaupt noch lebst, dirty old man?“

Die verstörende Zeit, der komplexe Umbau, Abbau des Prenzlauer Berges wie eine Notoperation ohne Notwendigkeit. Nur keine Bange. Um Endler bleiben einige Autoren gruppiert, wie Krähen, die Toten und die Lebenden eben, bei seinem Grabsteinen hockend, Wache schiebende, das Jahr hindurch getreue Vögel. Eine Handvoll Dichter-Kollegen vom nunmehr zerspellten Prenzlauer Berg (Andreas Koziol, Frank-Wolf Matthies, Jan Faktor, Wolfgang Hilbig), durch deren Gedichte, Essays, Erzählungen ich gleißend hin- und hergeistere, dass es nur so fetzt. Ich möchte bei dem Barock, dem Futurismus, dem Realexistenten der damaligen Zeit, einige noch benennen: Johannes Jansen, Leonhard Lorek, Brigitte Struzyk, Florian Günther, Dieter Kerschek, Gerd Adloff, Cornelia Schleime, Detlef Opitz, Gert Schönfeld, aber auch Peter Brasch, Jayne-Ann Igel, und die Kacholdgabi natürlich und Wüstefeldmichael, auch wenn da von mir einige Dichter beigemengt worden sind, die keinen Nachweis auf Prenzlauerberg-Zugehörigkeit erbringen müssen, wo es doch um ist und aus mit dem Bezirk.

Neben Endler nenne man stellvertretend für alle Zukurzgekommenen einen weniger wackligen Wackeren: Bert Papenfuß. Aus der ersten allgemeinen Verunsicherung der insgesamt verunsicherten gesamten Zittertruppe reagierte Papenfuß so angenehm rasch und früh und weise im Voraus, indem er sagen konnte, was er unheilvoll aufziehen sah. Dass nun die Zeit des Umzugs gekommen ist, sprich: dass der Prenzlauer Berg nunmehr in Mitte stattfindet. Wer es noch beherrscht, wer es nicht lassen kann, widme sich weiterhin der Konspiration und Geheimniskrämerei, der Paranoia und den gegenseitigen Verdächtigungen.

Peter Wawerzinek, geboren 1954, lebt als Schriftsteller in Berlin. Soeben ist im Verlag Galiani sein Roman „Rabenliebe“ erschienen. Er ist Träger des Ingeborg-Bachmann-Preises 2010. Am 24. September um 20 Uhr stellt er „Rabenliebe“ im Roten Salon der Volksbühne vor.

Peter Wawerzinek

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