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Kultur: Preziosen, Petitessen - das Musikereignis am Nordseestrand erneuert sich und bleibt doch beim Alten

Die gute Nachricht zuerst: In Husum ist alles beim Alten geblieben. Alljährlich versammeln sich hier am Ende des Nordseesommers Fans und Freaks zu "Raritäten der Klaviermusik", süchtig nach den verblichenen Preziosen und Petitessen ihres "Goldenen Zeitalters".

Die gute Nachricht zuerst: In Husum ist alles beim Alten geblieben. Alljährlich versammeln sich hier am Ende des Nordseesommers Fans und Freaks zu "Raritäten der Klaviermusik", süchtig nach den verblichenen Preziosen und Petitessen ihres "Goldenen Zeitalters". Erbittert wird nach den Konzerten über Farbigkeit des Anschlags, differenzierten Pedalgebrauch, Klarheit der Artikulation gestritten, am liebsten mit den Pianisten selbst. Auch die lassen sich den Auftritt ihrer Kollegen tunlichst nicht entgehen - so hautnah ist man beteiligt an künstlerischen Austauschprozessen, dass man sich wie im musikalisch-literarischen Salon des 19. Jahrhunderts fühlt. Den Reiz des völlig Unbekannten, den Überraschungswert des zu Unrecht Vernachlässigten erlebt man in so geballter Form nur in Husum, Herausforderung für Spieler und Hörer gleichermaßen.

Doch die bessere Nachricht ist vielleicht diese: Auch das Festival erneuert sich. Zwar will Peter Froundjian, künstlerischer Leiter nun schon im 13. Jahr, gar nicht alles so bewusst planen, keine Grenzen in Stilistik und Alter setzen, weder für Stücke noch für Pianisten. Aber Neugier auf Ausgefallenes und der Mut, am mainstream vorbei zu arbeiten, passt mit Jugend gut zusammen. Der 1970 in der Türkei geborene und teils in Berlin ausgebildete Fazil Say präsentiert in seinem Klavierabend gleich mehrere aktuelle Strömungen: Mit ideologisch unverstelltem Blick konfrontiert er so polar angesiedelte Zeitgenossen wie George Gershwin und Anton Webern. Dessen streng serielle Variationen op. 27 spielt er übrigens unüberbietbar ausdrucksvoll. Multikulturelle, nach persönlicher Identität suchende Ansätze drücken sich in Says "Tänzen des Nasreddin Hodja" und den impressionistisch angehauchten "Empfindungen" des Landsmannes Ulvi Cemal Erkin aus, crossover-Versuche in den parodistisch-poppigen "Paganini-Variations" und dem archaisch-avantgardistische Räume durchmessenden "Black Soil". Ganz und gar europäisch traditionell gibt sich dagegen der 30jährige Pole Piotr Anderszewski; die pure Sensibilität spricht aus seiner flexibel atmenden, dynamisch reich nuancierten Darbietung der "Masques" von Karol Szymanowski und der frühen "14 Bagatellen" von Béla Bartók.

An ausgefeilter Delikatesse erreichte ihn nur noch Nicholas Walker, jedoch auf weniger subjektive Weise, mit britischem Understatement gepaart. Besonders gut tat das den orchestralen Aufwallungen der Sonate f-moll von Sergej Ljapounow, dessen reiche Hinterlassenschaft weiter zu durchforsten wäre. Vernachlässigenswert erscheinen dagegen die "24 Pensées fugitives" des jung verstorbenen Alexis de Castillon, der gemeinsam mit Camille Saint Saens und Henri Duparc die Flagge der französischen Nationalmusik hochhielt. Frederic Chiu, dem Amerikaner chinesischer Abstammung, erscheinen sie gleichwertig mit Schumanns "Album für die Jugend", doch ihr blasser Charme entfaltete sich unter seinen forsch voranpreschenden Händen nur ansatzweise. Dieser prickelnd perkussive Stil eignete sich viel besser für eine unbekannte "Pensée" von Sergej Prokoffiew mit drohenden Bässen und unheimlichen, skurrilen Pendelbewegungen, ohne ihre Farbigkeit und ihre brüchigen Lyrismen außer acht zu lassen. Die große Sonate jedoch, die der Amerikaner Charles Griffes - unter anderm bei Humperdinck in Berlin ausgebildet - 1917 als ein sich vom Impressionismus lösendes Hauptwerk schrieb, war in Chius fesselnder, wagemutiger Interpretation eine echte "Raritäten"-Entdeckung.

Solche Wechselbäder an Klangphantasie, analytischer Klarheit, Ausdruckskraft verabreichten allein schon diese sehr jungen, noch auf dem Weg zu sich befindlichen Pianisten. Entsprechend polarisierten sie auch die Zuhörer, die mal die trockene Härte bei Chiu, mal eine gewisse Selbstdarstellungslust bei Say nicht gelten lassen wollten. Lebendig war das allemal. Wie gerade Unbekanntes nach Profilierung verlangt, war in Vladimir Stoupels Klavierabend eher betrüblich zu erfahren. Die charmanten oder auch gewichtig auftretenden Schaumschlägereien eines Camille Chevillard, Théodore Dubois, Mischa Levitzki oder Tony Aubin: verschenkt bei spannungslos kühler, lediglich technischer Makellosigkeit. Aufhorchen machten da nur "Fünf Arabesken" von Erwin Schulhoff, das Walzervergnügen des "Wiener Blut" bitonal trübend. Doch das ist alles gar nichts gegen die krachende Vitalität, die Frédéric Meinders in seiner eigenen "Rosenkavalier"-Suite ausbrechen lässt, umrankt von den innigsten, leise flüsternden, versprechend verzögernden Gebärden. Den eigentlichen Eklat jedoch erzeugte der intellektuelle Russe Alexej Lubimow mit einem schlüssig durchkomponierten Programm: Da kann John Cages "In a Landscape" von 1948 ohne weiteres das meditative Herzstück zwischen zwei "Elegien" von Rachmaninow und Bartók sein, verstört die 6. Sonate von Galina Ustwolskaja mit ständigem Unterarmcluster neben Valentin Silwestrows plätschernder "Kitschmusik" und geht doch verblüffende Parallelen zum späten Liszt ein. Empörung, ratlose Heiterkeit, fasziniertes Verständnis. Natürlich, solche Risikofreude hat ihre Grenzen, wo man auf Abonnenten angewiesen ist. Doch betrachtet man die Erneuerungswehen der Festivalszene von Salzburg bis Salzau, kann man nur sagen: Husum lebt!

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