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Protest: Sozialkritik am Theater wird lauter

"Den Kapitalismus an den Eiern packen": Die deutschsprachige Theaterszene schreit ihre Kritik an der unsozialen Gesellschaft immer lauter heraus.

Der Osten, wo er am grauesten war und mitten darin Bewohner des Plattenbaus, deren Beziehungen versinken wie die sterbende Stadt: Mit Fritz Katers depressivem Ostdrama "Heaven (zu Tristan)" haben die Mülheimer Theatertage zur Eröffnung am Sonntagabend einen Trend der zeitgenössischen Bühne aufgenommen: Immer lauter wird am deutschsprachigen Theater die Kritik an den Auswüchsen des Kapitalismus. Allein fünf der acht Produktionen, die bis Ende Mai um den renommierten Mülheimer Dramatikerpreis "Stücke" konkurrieren, kreisen um das Thema.

"Die Heuschreckendebatte wirkt auch auf die, die schreiben", sagt Festivalleiter Udo Balzer-Reher, "wohin Kapitalismus im konkreten Alltag führt - das interessiert in diesem Jahr viele Autoren."

Im wirtschaftlich gebeutelten Ruhrgebiet ist das nicht nur ein Thema der Kunst, sondern auch der konkreten Aktion: Als der finnische Handy-Hersteller Nokia zu Jahresbeginn ankündigte, trotz Milliardengewinnen sein Bochumer Werk mit 2300 Menschen zu schließen, veröffentlichte der Bochumer Schauspielintendant Elmar Goerden nicht nur Solidaritätsadressen. Er ließ im Haus eine Tonne aufstellen, in der Besucher ihre Nokia-Handys entsorgen sollten. Bei den Theatertagen ist Bochum mit Philipp Löhles "Genannt Gospodin" (Aufführung: 21./22.5.) vertreten.

Mit einem Lama in der Fußgängerzone betteln gehen

Das Stück erzählt von einem antikapitalistischen Aussteiger, der mit einem Lama in Fußgängerzonen bettelte, bis ihm das Tier weggenommen wird. "Geld darf nicht nötig sein. Den Kapitalismus an den Eiern packen", so lautet das Motto des Don Quichotte wider die Marktmacht - auch noch, als er Frau und Wohnungseinrichtung verliert und ein Freund ausgerechnet bei ihm eine Tasche voll Geld abstellt. Gospodin will es loswerden, doch die Tasche verfolgt ihn wie ein Fluch.

Einsam und wie verflucht agieren auch die drei Jugendamtssozialarbeiterinnen in Felicia Zellers "Kaspar Häuser Meer" (Aufführung 13./14.5.) über den vergeblichen Kampf gegen die Verwahrlosung von Kindern. Das Stück folgt der Kindstötung von Bremen im Herbst 2006, die Darstellerinnen sollen laut Regieanweisung als "Einzelkämpfer" "körperlichen Abstand" zueinander halten - bis eine von ihnen auf dem Asphalt aufschlägt. Dass die Gesetze des Marktes Identität zerstören und in die Vereinzelung zwingen, ist das Leitthema auch bei "Liebe ist kälter als das Kapital" des 2006er-Preisträgers René Pollesch (7.5.).

Auch auf anderen Bühnen werden sozialkritische Töne lauter: Das Kölner Schauspiel unter der neuen Leitung von Karin Beier widmet sich mit der vor kurzem uraufgeführten Produktion "Schattenstimmen" dem Schicksal der vielen tausend "Illegalen" in Deutschland. Der künstlerische Leiter der Berliner Schaubühne, Thomas Ostermeier, inszeniert in Berlin drastische Kapitalismuskritik mit Ravenhills "Der Schnitt", in dem Menschen mit einer Operation dem System gefügig gemacht werden. Das Staatstheater Nürnberg will das Schicksal der 1700 ehemaligen AEG-Arbeiter mit einem Bühnenstück aufarbeiten, die im Winter 2006 hartnäckig aber vergeblich gegen den Verlust ihrer Arbeitsplätze gekämpft haben.

Freundlicher Applaus vom Publikum, Langweile bei den Kritikern

Die Kritik sieht bei solcher Hinwendung des Theaters zum Politischen stets die Gefahr der Plattitüde. Die "Süddeutsche Zeitung" bemängelte etwa an der Ostermeier-Inszenierung "übereindeutigen Naturalismus" und verspürte Langeweile. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" zeigte sich nach der ersten Aufführung von "Heaven" am Schauspielfrankfurt wenig begeistert. Der "Dreck unseres verrotteten Kapitalismus" solle gezeigt werden, daraus geworden sei steriles Papier.

Dieser Meinung war das Mülheimer Publikum am Sonntagabend nicht: Es gab freundlichen Applaus für "Heaven". "Wir machen hier ja auch kein Agitprop oder rufen zum Ruhrkampf auf", betont Balzer-Reher. "Wenn sich die Leute einen Abend gedanklich mit Armut und den Folgen beschäftigen, haben wir schon viel erreicht." Dass dieses Thema zunehmend auch die bürgerliche Mittelschicht interessiert, die in den Theatersälen dominiert - dafür sorgt schon die Lage auf dem Arbeitsmarkt mit Entlassungswellen auch bei höher Qualifizierten in Banken, Agenturen und Versicherungen.

Rolf Schraa[dpa]

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