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Kultur: "Radical Fashion": Kleider machen Häute

"Eine Skulptur steckt bereits im Marmorblock", hat Michelangelo gesagt: "Der Bildhauer muss sie nur herausholen." Auf den ersten Blick wirkt die Installation des japanischen Modemachers Issey Miyake wie die Probe aufs Exempel.

Von Susanna Nieder

"Eine Skulptur steckt bereits im Marmorblock", hat Michelangelo gesagt: "Der Bildhauer muss sie nur herausholen." Auf den ersten Blick wirkt die Installation des japanischen Modemachers Issey Miyake wie die Probe aufs Exempel. Hoch über dem Betrachter schweben dicke Stoffballen, von denen breit Bahnen herunterhängen. Genauer gesagt sind es bunte Stoffröhren aus feinem, dehnbarem Jersey. Sie enden direkt auf der Puppe - als vollständige Garderobe mitsamt Handschuhen, Strümpfen, Kopfbedeckung, eingewebten Mustern, eleganten Drapierungen und vollendeter Passform.

Tatsächlich ist der Titel von Miyakes Projekt - "A POC", "A Piece Of Cloth" oder "Ein Stück Stoff" - eine bewusste Täuschung, ist der Schaffensprozess, den Michelangelo beschreibt, längst abgeschlossen. Das Material sieht zwar unbearbeitet aus, aber die Schnitte und Muster wurden von Miyake und seinem Textilingenieur Dai Fujiwara akribisch berechnet und per Computer auf die Strickmaschine übertragen. Es fehlt nur noch ein Schritt: "Alles, was zwischen Trägerin und Kleidung steht, ist eine Schere, um die Kleider zu befreien", sagt Miyake. Seiner Ansicht nach ist seine Arbeit nicht vollendet, so lange die Kleider nicht getragen werden.

Genau darin besteht das Problem, wenn Mode im Museum präsentiert wird. Das sinnliche Erlebnis des Tragens geht dem Betrachter auch auf einer Modeschau verloren - aber dort sieht er die Kleider wenigstens in Bewegung und am lebendigen Körper. Doch die von heute an zu besichtigende Modeausstellung "Radical Fashion" im Londoner Victoria & Albert Museum gibt sich nicht mit Puppen und Kleiderständern zufrieden. Videoinstallationen, Spiegelungen und nicht zuletzt die eigens komponierte Musik - unter anderem von Björk, Kim Cascone und Ryuichi Sakamoto - rufen den Eindruck hervor, Mode in Bewegung zu sehen.

Das beste Beispiel ist die Installation von Alexander McQueen, dem jungen Londoner mit ausgeprägtem Hang zum Theatralischen. In einem Glaskasten stehen zwei Haute-Couture-Modelle, das eine bestehend aus 2000 rot bemalten Glasplättchen und rot-violett gefärbten Straußenfedern. Dahinter läuft lebensgroß das Video von McQueens letzter Schau "Voss", bei der die Models in einem von einseitig verspiegelten Glaswänden begrenzten Raum auftreten - die Frauen sehen nur sich selbst. Die gewalttätige Geste, mit der sich eine von ihnen an ihrem Kleid aus messerscharfen Muscheln buchstäblich die Hände blutig reißt, ist typisch für McQueen. Während der Betrachter noch erschrocken das Schlussbild anstarrt, wechselt die Beleuchtung, das Glas der nunmehr dunklen Vitrine wirft plötzlich das eigene Spiegelbild zurück.

In solchen Räumen werden die Visionen sichtbar, zu denen Mode auch fähig ist. Elf der innovativsten zeitgenössischen Modedesigner hat die Kuratorin Claire Wilcox in zwei Räumen des Museums versammelt. "Die größte Gemeinsamkeit dieser Designer ist ihre Unterschiedlichkeit", sagt Wilcox. Doch sie haben sich zusammengefunden, in elf von ihnen selbst mitgestalteten Installationen. Der Österreicher Helmut Lang beispielsweise zeigt kein einziges Kleidungsstück. Stattdessen huschen über rot beleuchtete, reflektierende Wände die Schatten seiner sämtlichen Modeschauen.

Hussein Chalayan, britischer "Designer des Jahres" 1999 und 2000, hat solche Vorbehalte nicht. Seine Arbeiten bewegen sich oft im Grenzgebiet zwischen Kleidern und anderen Bereichen des Alltagsdesigns. "Wenn Menschen über Kleider sprechen, übersehen sie den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext und nehmen nur die Oberfläche wahr", sagt der gebürtige Zypriot: "Das finde ich uninteressant." In einer Kollektion experimentierte er mit ledernen Kopf- und Armstützen, zu denen ihn der Innenraum von Autos inspiriert hatte; in einer anderen, von der auch ein Video gezeigt wird, verwandeln sich Möbelüberzüge und ein ganzer Tisch auf verblüffende Weise in Kleidungsstücke.

Den Japaner Junya Watanabe interessieren mehr die Möglichkeiten verschiedener Materialien. Seine vier ausgestellten Kleider stammen aus der Kollektion "Techno Culture", bestehen aus fast gewichtslosem Polyesterchintz und sehen aus wie zarte, kunstvoll gefältelte Lampions. Wie sie die Bewegungen der Trägerin als visuelles Echo aufnehmen und vergrößern, zeigt sich später auf einer Videoleinwand.

Watanabe ist ein Zögling von Rei Kawakubo, die mit ihrem Label "Comme des Garçons" radikale Grenzverschiebungen versucht, bis hin zur Neuerfindung ganzer Körpersilhouetten. Sie ist in der Ausstellung ebenso vertreten wie Yohji Yamamoto, der sich selbst als "Schneider" bezeichnet, der aus der Beziehung zwischen Material und dem menschlichen Körper Kleider schafft und damit selbst Trends mitbestimmt.

Trendsetter sind sie alle: der Belgier Martin Margiela, dessen Hauptthema das Volumen von Kleidern ist, Vivienne Westwood - an der Berliner HdK lehrende Modelegende - mit ihren unermüdlichen Expeditionen in die Kostümgeschichte, Jean-Paul Gaultier, der wie kein zweiter Erhabenes und Vulgäres in ständig neue Zusammenhänge stellt, der Tunesier Azzedine Alaia, ursprünglich Bildhauer, der sich als "Baumeister" bezeichnet und Kleider macht, die wirken wie ein Teil der Trägerin.

Was Mode für viele abstoßend macht, die Hysterie des Geschäfts und die Eitelkeit der Beteiligten, wird in der Ausstellung unwichtig. Auch der Jugendkult, für den Mode besonders anfällig ist, spielt in "Radical Fashion" keine Rolle. Designer wie Miyake, Alaia, Westwood, Kawakubo und Yamamoto (alle um 1940 geboren) beeinflussen die internationale Mode seit über 20 Jahren. Kurzlebige Effekte für die jeunesse dorée gehören nicht zu ihren Konzepten.

Neben dem Metropolitan Museum in New York gibt es weltweit wenige Museen, die so großen Wert auf Mode legen wie das Victoria & Albert. Neben der umfangreichen ständigen Ausstellung zeigt es regelmäßig Sonderausstellungen; bei "Fashion in Motion"-Abenden mischen sich Models in Kleidern von wechselnden großen Namen wie Stella McCartney oder Louis Vuitton unter die Besucher. "Radical Fashion" jedoch ist eine neue Größenordnung der Modeausstellung, eine ungewöhnliche Zusammenschau mehrerer Designer, die derzeit das Geschehen beeinflussen.

"Mode wird immer mehr zum Publikumsmagneten", sagt Claire Wilcox. Man kann sich denken, warum. Mode ist wesentlich stärker publikumsbezogen als das gros der modernen Kunst, zielt auf die Emotionen des Betrachters. Ist Mode Kunst? "Muss sie das sein?", fragt Claire Wilcox zurück. Auf dem Niveau von "Radical Fashion" ist sie höchste Kunstfertigkeit, die über unser Leben nicht weniger aussagt als etwa Architektur. Grund genug, sie ernst zu nehmen.

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