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Kultur: Rechtschreibreform: Altschreib - Neudeutsch (Kommentar)

Sage mir, wie du schreibst, und ich sage dir, wer du bist. Hach, sind das Zeiten!

Sage mir, wie du schreibst, und ich sage dir, wer du bist. Hach, sind das Zeiten! Die "FAZ" rettet das Esszett, schreibt wieder "Mißtrauensvotum" in ihrer Headline und gibt Anlass zu wundersamen Wortschöpfungen wie Reformrückbau. Was haben wir in der vergangenen Woche an frohen Botschaften nicht alles vernommen: Die Schriftsteller besinnen sich auf ihre vornehmste Pflicht und tun, was sie sollen, nämlich so zu schreiben, wie sie wollen. In aller Öffentlichkeit wird über Wortvarianten, Grammatik und Stilfragen diskutiert, die Kulturnation blüht wie lange nicht mehr. Ein jeder schaut die Worte an wie exotische Geschöpfe, nun schauen sie zurück: Befremdung war schon immer der erste Schritt zur Erkenntnis. Die alte, neue Sprache ist der Stoff, aus dem die Träume sind: ein feines Gewebe, das täglich neu gesponnen werden will. Schon die Weichei-Welle inspirierte den Dichter im Bürger, nun darf die Fantasie ihre Flügel noch weiter ausbreiten: Leitartikler mausern sich zu Sprachakrobaten, die globale Deregulierung erreicht selbst die Liebhaber der Rohschreibkost und des Buchstabensalats. Bekömmliche Vielfalt heißt die Devise. Damit wir gründlich missverstehen: Die Freiheit der Andersdenkenden erhält endlich eine schriftliche Basis. Deutschland, ein einig Volk von Abweichlern. Mit anderen Worten: Die "FAZ" hat die wahre Dimension ihrer Rückkehr zur alten Schreibung selbst noch nicht erkannt: Nein, die Reform ist kein Skandal, wie das Blatt lautstark trompetet. Sie braucht nicht zurückgenommen zu werden, kein Staat muss ordnend eingreifen, kein Bundespräsident Machtworte sprechen. Im Gegenteil: Neue Toleranzen braucht das Land; mit dem Alleingang der "FAZ"-Rechtschreibreformrückbauer ist ein erster Schritt ins Offene gewagt. Der Duden macht derweil wie gehabt seine Arbeit, sortiert behutsam die Vielfalt der erlaubten und erwünschten Wörterversionen und erscheint am 25. August in seiner 22. Auflage. "Wir müssen", verlautet es aus der Duden-Redaktion, "keine neuen Regeln aufstellen, es geht lediglich darum, sie für alle verständlich auszulegen". Nur Lehrer und Schüler stöhnen immer noch. Aber auch sie sind nicht zu bedauern, denn die Deutschstunde braucht sich in Zukunft nicht mehr der leidigen Orthographie zu widmen, sondern kann sich einzig und allein dem höheren, tieferen und feineren Sinn der Sprache zuwenden. Nie waren deutsch sprechende Menschen so sensibel wie heute: Wenn das kein zivilisatorischer Fortschritt ist. Und die neuen Wörter, die der neue Duden versammelt, 2000 an der Zahl, sind auch nicht ohne: viel Slang, viel Sex, viel Globalisierung. Der "Bimbes" folgt dem "Ampelmännchen", der "Waschbrettbauch" dem "Warmduscher", "Viagra" und "Push-up-BH" sind durch Aufnahme in die Sprachbibel gesellschaftsfähig geworden, und der Kommunikation im Internet sind keine Grenzen gesetzt: Nun darf ganz offiziell "gechattet", "gemailt" und "gedownloadet" werden. Der letzte Eintrag in der vorab veröffentlichten Liste der Neuwörter heißt "Zweitmeinung". Wie schön, dass wir sie uns leisten können. Nicht nur in Fragen der Orthographie.

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