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Kultur: Regeln für das Sprachgefühl Rosemarie Tietzes

Utopie des Übersetzens.

Von Gregor Dotzauer

An literarischen Übersetzern kleben viele ehrenvolle Etiketten. Sie gelten, wie eine ihrer prominentesten und klügsten Repräsentantinnen, die Münchner Russischübersetzerin Rosemarie Tietze, bei ihrer Antrittsvorlesung zur August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessur der FU in der Bayerischen Landesvertretung Berlin erklärte, nach wie vor als Fährleute und Brückenbauer – obwohl ihre beschwerliche „Pfadfinderei an der Sprachgrenze“ doch oft im Morast eines Niemandslandes stecken bleibt. Sie werden, wie es Alexander Kluge tat, zu den „letzten Schriftgelehrten“ stilisiert. Und selbst wo man ihr Loblied etwas leiser singt, umgibt sie zumindest bei großen Autoren ein mythologischer Strahlenkranz, der den düsteren Schatten, die der Turm von Babel zu werfen scheint, etwas von ihrer Bedrohlichkeit nimmt.

Rosemarie Tietze, die es sich nicht nur im Rahmen ihrer Professur zur Poetik der Übersetzung leisten kann, vom „steigenden Selbstwertgefühl“ einer Zunft zu sprechen, die sich allzu lang in „pathologischer Bescheidenheit" erging, hat indes nichts dringender im Sinn, als die Assoziation mit Sündenfall und Sprachverwirrung loszuwerden. Denn war, so fragt sie mit Sibylle Lewitscharoff, das Pfingstwunder, in dessen Folge die Apostel in vielen fremden Zungen zu predigen anfingen, nicht eine „Reparaturleistung“ am alttestamentarischen Turmbau? Der wahre Schrecken sei doch heute „die ,globale Einsprachigkeit’, das mafiös operierende ,Globalese’“. Insofern, auch so muss man das verstehen, kommt es für Übersetzer darauf an, sogar in ihrer eigenen Sprache viele Sprachen zu sprechen. Von „Textausspuckmaschinen ohne Gesicht und Stimme“, zu denen Verlage Übersetzer gelegentlich degradieren, gibt es wirklich genug.

„Übersetzen. Eine Utopie“: So war Tietzes Vorlesung überschrieben, und wie schnell man dabei vom Ü zum U kommt, und von dort wiederum zum Y der Dystopie, die nichts anderes ist als die Gegenwart, dafür genügt ein Blick auf die sich nur langsam verbessernden Arbeitsbedingungen. Zwischen erniedrigenden Knebelverträgen und der Verklärung eines Berufsbilds, zur der auch der eigene Stand mit einem „ins Triviale gerutschten Geniekult“ beiträgt, plädiert sie für ein zutiefst handwerkliches Verständnis der Übersetzungskunst: „Wir müssen endlich unsere Aufklärung nachholen.“

Als Schlüssel dazu empfiehlt sie in Kompendien niedergelegte Ratschläge zur Entwicklung eines Sprachgefühls, das die Wege zu assoziativen und intuitiven Techniken ebnet. „Übersetzer“, so Tietze, „müssen ihr Zunftwissen selbst systematisieren und formulieren.“ Sie müssen es mit einem Fingerspitzengefühl tun, wie es einst Carl Philipp Emanuel Bach und Leopold Mozart Klavier- und Geigenschülern in musikalischen Handbüchern unter Beweis stellten. Von der jungen Disziplin der akademischen Translatologie und ihrer „Begriffshuberei“, die jeden Praktiker zwinge, Reißaus zu nehmen, um sich „nicht das Sprachhirn zuzukleistern“, ist das weit entfernt.

Mit Übersetzungen von Andrej Bitow oder zuletzt Leo Tolstois „Anna Karenina“ und Gaito Gasdanows „Phantom des Alexander Wolf“ hat Tietze eindrucksvoll gezeigt, wohin das „Spiralcurriculum eines lebenslangen Lernens“ führt – und wie sehr Handreichungen aus erfahrenem Munde Irrwege womöglich vermeiden helfen. Nur vor einer Täuschung würde man sie gerne bewahren.

Zum Vorbild eines übersetzerischen Vademecums ausgerechnet den Journalistenstilpapst Wolf Schneider zu erklären, der in seiner Überkorrektheit jeden übers kurzatmige Gardemaß hinausschießenden Satz zusammenstutzen würde, geht schon an ihrem Verständnis von literarischem Sprechen vorbei. Tucholskys Journalistenschelte „Erst denken sie nicht, und dann drücken sie’s schlecht aus“ mag auch auf manche Schriftsteller zutreffen. Doch auch unterhalb von Giganten wie Tolstoi prallt der Anspruch bruchloser Eingängigkeit ab. Gregor Dotzauer

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