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Kultur: Reist du noch oder wohnst du schon?

Heimliche Hauptstadt des hohen Nordens: Mit der großen Jahresausstellung „Berlin-North“ holt sich der Hamburger Bahnhof die skandinavischen Künstler der Stadt ins Haus – und rechtfertigt seinen Ruf als Museum der Gegenwart

Über die Kunststadt Berlin gibt es zwei Allgemeinplätze, die auf jeder Vernissage schon nach kurzer Zeit zu hören sind. Erstens: Berlin ist die Stadt mit der größten Anziehungskraft für internationale Künstler – nicht nur wegen des Flairs, sondern vor allem wegen der billigen Ateliermieten und geringen Lebenskosten. Zweitens: Zu sehen ist davon wenig, zumindest in den Museen der Stadt. Gemeint ist damit meist der Hamburger Bahnhof, der als Museum für Gegenwart eigentlich Flaggschiff der aktuellen Kunst sein sollte – und doch vornehmlich als Gehäuse für die Sammlung Marx dient, deren Schwerpunkt bei Beuys, Twombly, Warhol und Rauschenberg liegt.

Mit „Berlin-North" geht man nun in die Offensive. Das wichtigste Ausstellungsereignis des Jahres, bevor endgültig alle Kräfte für die Präsentation der Flick-Collection im Herbst gebündelt werden, widmet sich den skandinavischen Künstlern mit Wohnsitz Berlin. Was die Werbefritzen von Ikea schon lange wussten – Berlin ist die heimliche Kapitale Schwedens! –, das findet nun auch in der bildenden Kunst seine Bestätigung. Seit den Neunzigerjahren ist die deutsche Hauptstadt Anlaufstelle Nummer eins für Maler, Bildhauer, Konzept- und Videokünstler aus dem hohen Norden. Der Mauerfall bescherte auch ihnen neue Spielräume – und einen neuen Zugang zum internationalen Markt. Von Berlin aus haben Künstler wie Jens Christopher Jenssen oder Olafur Eliasson ihre Karrieren begonnen. Beide sucht man unter den 27 Positionen der Jahrgänge 1953 bis 1976 allerdings vergebens, die erneute nationale Vereinnahmung ist vielen suspekt. Dass der Hamburger Bahnhof trotzdem diese Karte spielt wie zuvor schon mit China, Spanien, Australien, hat mit dem mageren Ausstellungsetat zu tun. Bei Nationalausstellungen springen gerne die jeweiligen Botschaften ein. Dem Titel zum Trotz versucht „Berlin-North“ dennoch das Etikett „Nordisch" zu vermeiden und alle Natur-Klischees zu umschiffen.

Gerade das scheint den jungen Norweger Knut Henrik Henriksen gereizt zu haben, denn ausgerechnet den Eingangsblick in die historische Halle versperrt er mit einer gigantischen Bretterwand – aus original nordischer Kiefer. Größer kann der Balken im eigenen Auge nicht werden, muss sich Ausstellungskuratorin Gabriele Knapstein bei diesem Entree mutig gedacht haben. Dabei gibt diese kühne Okkupation überraschende Blicke frei, eröffnet sie neue Einsichten in das Gebäude, hat man die Versperrung erst einmal umrundet. Denn die banale Bretterwand ist genau entlang der einstigen Baunaht gezogen, wo die große Halle erst in dem Moment angefügt wurde, als der Bahnhof seine eigentliche Funktion verlor und zum Museum für Verkehr und Technik wurde. Henriksen hält sich hier trotz Recherche im Mikrokosmos Hamburger Bahnhof auf Makro-Höhe des internationalen Diskurses, zu dessen beliebtesten Themen die kritische Untersuchung lokaler Gegebenheiten gehört, ihre künstlerische Aufdeckung.

Mit seiner Kiefer-Nord-Wand klatscht Henriksen die gewonnenen Erkenntnisse dem Besucher so fett wie einen Ikea-Katalog um den Ohren; es bleibt die einzige Backpfeife der Ausstellung, die man sich im Museum ansonsten gerne abholt. Nur hin und wieder gibt es kleine Knuffe, etwa von der Norwegerin Sissel Tolaas, die eine ganze Galeriewand mit einer Farbe bestreichen ließ, bei deren Berührung sich der Geruch von Geld freisetzt. So wenig diese nordischen Künstler rein stilistisch verbindet (die sich mehr als Teil der internationalen community verstehen), so vereint sie doch eine gewisse Reserviertheit, ja Verhaltenheit im Ausdruck – zumindest im Vergleich zur australischen Kunst, die zuletzt ihren poppig-schrillen Auftritt im Hamburger Bahnhof hatte.

Dabei gehörte Distinguiertheit nicht gerade zu den Eigenschaften, mit denen die skandinavische Kunst zumal in Berlin um die Jahrhundertwende Weltruhm errang. Edvard Munch und Henrik Ibsen wie August Strindberg sorgten hier mit revolutionären Werken für Skandal und Zugluft in einer muffigen Szene. Das war einmal, denn gerade mit ihren kleinen, feinen Beobachtungen und Interventionen konnten die skandinavischen Künstler in den Neunzigerjahren die Aufmerksamkeit eines großen Publikums auf sich lenken. Plötzlich war ein regelrechter Boom zu verzeichnen, nachdem sich das Phänomen BritArt ausgereizt hatte: Ausstellungen allenthalben und der skandinavische Pavillon auf der Biennale di Venezia als beliebtestes Besucherziel. Diese überraschende Neugierde auf den Norden hatten jedoch nicht nur die Trendscouts unter den Kuratoren ausgelöst, sondern war gezielt von den Ländern selbst durch Atelierprogramme und Stipendien entfacht. Als wichtige Anlaufadressen diente hier das Berliner Künstlerhaus Bethanien und der DAAD, deren Gäste häufig dauerhaft blieben und damit Kontakt zu größeren Netzwerken unterhielten.

So gehört es zu den Überraschungsmomenten der seit dem Mauerfall unübersichtlich gewordenen Berliner Szene, wer außerdem sein Atelier in die Stadt verlegt hat und hier unbemerkt seine internationale Karrieren ausbauen konnte. Zu diesen Kandidaten gehört auch der neue Darling Henrik Hakansson, dessen von Hochspannungsdrähten herunterwachsende Pflanzen plötzlich in vielen Ausstellungen wucherten. Für Berlin hat er eine zauberhafte Variante seiner subtilen Verbindungen aus Natur und Technik entwickelt: Mit einer Videokamera nahm er im Tiergarten die Stimmen von 14 Nachtigallen auf, die nun auf hoch technizistischen Bildschirmen fröhlich durcheinander zwitschern. Oder das schwedische Duo Bigert & Bergström, das mit seinen absurden Performances und Versuchsanordnungen Mitte der Neunziger für Irritationen sorgte, nun aber mit einem geradezu poetischen Foto-Mobile wiederkehrt. Unvergessen ist Eija-Liisa Ahtilas Auftritt vor drei Jahren in der Neuen Nationalgalerie, nachdem die finnische Videokünstlerin 1999 auf der Biennale di Venezia den Kunstpreis gewonnen hatte. Der Hamburger Bahnhof zeigt noch einmal ihren verstörenden Beitrag für die Documenta 11 – die projizierte Selbstwahrnehmung einer schizophrenen Frau.

Sucht man doch nach einem verbindenden Glied zwischen den Vertretern der fünf Nationen, so könnte dies das Erzählerische sein, was die Künstler selbst vermutlich ablehnen würden. Die großformatigen Fotografien Annika von Hauswolffs, etwa von einem Kind mit Kettensäge, einem sitzenden Mädchen, das sich von hinten Hose und Hemd an den Körper hält, sind wie der Beginn einer abstrusen Geschichte. Jens Haaning hat eine solche selbst inszeniert, indem er Plastikstühle aus dem Londoner Institute of Contemporary Art mitten auf einem Marktplatz in Karachi abstellte, wo sie innerhalb weniger Sekunden verschwanden.

Von der Reiselust vieler Künstler berichten auch die Aufnahmen Mette Tronvolls, die Menschen in der Mongolei porträtiert, deren unverwandter Blick nun den Museumsbesucher trifft. Künstler heute, ob nordisch oder nicht, sind rund um den Globus beschäftigt, Reisende im Spannungsfeld zwischen regionaler Herkunft und internationaler Bühne. „Fremdgehen“ könnte man das mit einem Augenzwinkern nennen, so auch der programmatische Beitrag von Lars Ramberg in großen roten Lettern auf dem Bahnhofsdach. Zugleich spielt er damit auf das Schicksal norwegischer Frauen an, die im Zweiten Weltkrieg eine Beziehung zu deutschen Besatzungssoldaten unterhielten und bis heute nicht in ihr Land zurückkehren dürfen. Fremdgehen ist hier kein Spiel, kein künstlerisches Experiment, sondern ein verborgenes Drama. Die geballte Formation skandinavischer Künstler im Hamburger Bahnhof fördert nicht nur dieses Geheimnis an die Oberfläche, für viele offenbart sie zum ersten Mal deren Existenz in der Stadt.

Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50, bis 12. April; Dienstag bis Freitag 10-18 Uhr, Sonnabend, Sonnntag 11-18 Uhr. Katalog 29 €.

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