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Religiöse Apartheid im Libanon: Vor dem Jüngsten Gericht

Das Rechtssystem des Libanon unterstützt die religiöse Apartheid, indem es den Kirchen breite Befugnisse einräumt. Ein Besuch bei den orthodoxen Christen von Tripoli.

Schlaftrunken treten die Menschen von Tripoli, der zweitgrößten Stadt des Libanon, auf ihre Balkons, Terrassen und vor die Haustür, um den Grund für das nächtliche Glockenläuten aus Richtung der Sankt-Georg-Kathedrale zu erfahren. Plötzlich kommt ein kleiner Junge aus einer Gasse gerannt und ruft immer wieder, dass ein Wunder geschehen sei, die Ikone der heiligen Maria habe geschwitzt.

Die Menschen drängen zur Kirche, wo vor der Ikone ein Lichtermeer von Kerzen wogt, das ihre Umhüllung aus silbernen und goldenen Blättchen zum Glänzen bringt und ihre Gesichtszüge noch entrückter wirken lässt. Dann setzt der Archemandrit in seinem archaischen byzantinischen Gewand zur Predigt an. Er deutet das geschehene Wunder als Ausdruck der Besorgnis der heiligen Jungfrau um das Schicksal der Kinder und ermahnt die Anwesenden, sich nur von den orthodoxen Tugenden leiten zu lassen. Seit Wochen ist die Stadt am Mittelmeer, 90 Kilometer nördlich von Beirut, Schauplatz schwerer Kämpfe zwischen der libanesischen Armee und fanatisierten Palästinensern aus dem Lager Nahr al-Bared. Die Armee will jetzt die „Entscheidungsschlacht“.

Dass das Sakrale unmittelbar ins profane Leben übergreift, ist keineswegs eine Spezialität der orthodoxen Bewohner Tripolis, sondern unbestrittenes Axiom der zwanzig christlichen und muslimischen Hauptgemeinden des Dreimillionenvolkes im Libanon. Religiöse Codices und Bräuche zementieren die seit Jahrhunderten bestehende interkonfessionelle Trennung und verhindern einen auf Vernunft und gemeinsame Interessen bezogenen konfessionsübergreifenden Dialog, der eine säkulare libanesische Identität schaffen könnte.

Die größte christliche Gemeinde des 500 000 Einwohner zählenden Tripoli ist die griechisch-orthodoxe mit 50 000 Mitgliedern. Dazu kommen die kleinen maronitischen und die melkitischen Gemeinden, die das Zahlenverhältnis gegenüber der sunnitischen Mehrheit kaum beeinflussen. Die religiöse Erziehung fängt im Kindesalter an. So entstehen die Freundschaften und Bindungen, die später neue Familiengründungen erlauben. In den beiden Privatschulen, die die orthodoxe Gemeinde unterhält und die auch Muslimen offenstehen, bekommen die Kinder Unterricht zu Dogma und Geschichte ihrer Kirche. Sonntags geht es zur Messe, wo die Schüler in Reih’ und Glied den bis zu drei Stunden dauernden Gottesdienst absolvieren. In den höheren Klassen kommen die Jugendlichen in Kontakt mit Lehrern oder älteren Schülern, die für Parteien und Organisationen werben, für Panarabisten, Kommunisten, Sozialprogressive, meist aber für die orthodoxe Jugendorganisation MJO (Movement Jeunesse Orthodox).

Ende der vierziger Jahre gegründet, hat sich die MJO die Erneuerung der orthodoxen Gemeinde in Libanon und des auf Syrien ausgedehnten antiochenischen Patriarchats zum Ziel gesetzt. In Seminaren und Sonntagsschulen werden die Adepten in die Lehre der Orthodoxie (der „wahren Christenheit“) eingeweiht. Gemeindemitglieder schwärmen in die Dörfer der benachbarten Alkura-Berge aus, um Seminare abzuhalten und vor Missionaren anderer christlicher Gemeinden (wie Protestanten und vor allem die Zeugen Jehovas) zu warnen. Für Jugendliche – auch nicht-christliche – wird praxisorientierte Lehre angeboten wie Hausbau, Reparatur, medizinische Assistenz. Nach Abschluss eines orthodoxen Gymnasiums hat der Absolvent gute Chancen im Berufsleben, wenn er nicht auf einer der sieben Universitäten des Landes studieren will.

Die Orthodoxen in Tripoli, eine Minderheit ohne eigene Miliz, sind bestrebt, den inneren Zusammanhalt ihrer Konfession zu stärken, vor allem durch Abgrenzung von anderen, wie der katholischen und vor allem der islamischen. So sind Mischehen mit Katholiken immer noch verpönt, mit Muslimen gelten sie als Schande. Sie werden auf beiden Seiten stark geahndet und enden oft mit Selbstmord.

Das Rechtssystem des Libanon unterstützt die religiöse Apartheid, indem es den Kirchen breite Befugnisse einräumt. So sind für Hochzeiten, Scheidungen und Erbfragen ausschließlich die jeweiligen Kirchen oder Moscheen zuständig. Obwohl sich im Arbeitsleben Angehörige aller Konfessionen mischen, ist die religiöse Trennung im Libanon ein Phänomen, neben dem deutsche „Parallelgesellschaften“ absolut harmlos wirken. Der libanesische Staat ist nach einem Proporzsystem geordnet, der die Teilhabe aller Konfessionen an der Macht reguliert. Die Sehnsucht nach einer weltlichen Zivilgesellschaft, obwohl von den meisten geteilt, gilt als visionäre Schwärmerei.

Umgeben von einer konservativen muslimischen Mehrheit, bangen die Orthodoxen in Tripoli ob der Erfahrungen aus der Geschichte um ihr Leben. 1982, während des letzten Bürgerkriegs, erklärte Scheich Schaaban die Stadt zu einem selbstständigen islamischen Fürstentum und erließ diskriminierende Verfügungen, denen antichristliche Pogrome folgten. Die Angst vor einem neuen Bürgerkrieg wird auf beiden Seiten durch die Vorstellung eines jüngsten Gerichts, das in den heiligen Büchern beider Konfessionen grausam beschrieben ist, noch gesteigert. Nur eine strikte Trennung der Politik vom Sakral-Visionären würde ein Ende der Feindschaft ermöglichen.

Doch der Gotteshunger, der zurzeit an allen Gemeinden und Glaubensrichtungen des Libanon nagt, verhindert jede politische, auf Vernunft gerichtete Lösung. Die orthodoxen Christen von Tripoli werden weiterhin fürchten, die ersten Opfer eines modernen Armageddon zu sein.

Jacques Naoum

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