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Schon als Kind hat Martin sich vor der Kamera seines Vaters gern in Pose gesetzt.

© privat

Retrospektive im Hamburger Bahnhof: Heavy Burschi Martin Kippenberger

Martin Kippenberger und Berlin, das ist eine komplizierte Geschichte. Im Hamburger Bahnhof wird am Freitag die erste Retrospektive des Künstlers in der Hauptstadt eröffnet. Jetzt würde er 60 Jahre alt. Erinnerungen einer Schwester an den großen Bruder, der so gern Geburtstag feierte.

Sechzig. Fünf Jahre bis zum Ruhestand, zum süßen Nichtstun. Am 25. Februar wäre mein Bruder sechzig geworden. Er hat sich mal vorgestellt, wie das wäre: alt zu sein. Wie er in Italien im Café sitzen und aus seinem Leben erzählen würde. Einen Moment lang hat er das friedliche Bild genossen, dann sind die Zweifel zurückgekehrt. „Aber nachher glaubt dir keiner und dann bist du auch wieder alleine.“

Allein ist er zu Lebzeiten oft gewesen: weil viele ihm nicht glauben wollten, dass er ein ernsthafter Künstler ist. Sie hielten ihn für einen Clown, meist einen rheinischen, weil er so lange in Köln gelebt hat. Dabei war es das Ruhrgebiet, das ihn geprägt hat, seine Sprache, seinen Witz, seine Direktheit. Mit seinem Freund Meuser, aus Essen wie wir, hat er besonders gern „Titel gekloppt“. Kälte an Leinwand, Aschenbecher für Alleinstehende, Ich geh kaputt, gehst Du mit?, Was ist bloß am Sonntag los? Den Sonntag hat Martin gehasst und gefürchtet. Weil es da so ruhig war, so tot. Stillstand konnte er nicht leiden, vor dem Alleinsein hatte er Angst.

Martin selbst hat an sich und die Kunst geglaubt, von Anfang an, hat als Kind geglaubt, dass er ein berühmter Künstler wird, und als Teenager, dass er mal Millionen verdient. Unsere Mutter hat gestaunt über diese Zuversicht zu einer Zeit, als er in der Schule dauernd sitzenblieb, mit Drogen anfing. Aber dieser Glaube hat ihm die Kraft gegeben, zu arbeiten wie ein Besessener, auch nach Niederlagen immer wieder aufzustehen: Jetzt erst recht.

Geburtstage wurden bei uns immer groß gefeiert, und bei sieben Familienmitgliedern plus Hausgästen plus Großeltern war dauernd Geburtstag. Wenn nicht, wurde was anderes gefeiert, Vatertag, Muttertag, Kindertag, Weihnachten, Ostern und Nikolaus, das Mutter-ist-nicht-da-Fest, St. Martin oder eine neue Skulptur. Aber der Geburtstag war was Besonderes: weil man da alleine König war. Das Geburtstagskind konnte bestimmen, was es zu essen gab (Nudelauflauf hat Martin sich gewünscht), kriegte Geschenke, stand im Rampenlicht. Martin hat die Aufmerksamkeit genossen, sie provoziert. Vor der Kamera unseres Vaters hat er sich mit Freuden in Szene gesetzt. Nach Liebe hat er sich gesehnt.

Einmal erwachsen, hat Martin jeden Geburtstag zur Performance gemacht. Den 25. Februar konnte man sich blind in den Kalender eintragen, was heißt: konnte – musste! Anwesenheit war Pflicht. Zum 25. Geburtstag hat er halb Berlin, West-Berlin, mit Plakaten vollgeklebt: „Ein Vierteljahrhundert Kippenberger als einer von Euch, mit Euch, unter Euch.“ Damals, Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre hat Martin in Kreuzberg gelebt, mit Gisela Capitain Kippenbergers Büro betrieben, mit Achim Schächtele das SO 36, eine wilde Zeit, ein mythischer Ort, über den immer noch so viel geschrieben wird, dass es einem wie ein zweites Atlantis erscheint.

Wehmütig klingt das Lied, in dem David Bowie, inzwischen 65, seine Erinnerungen an dieses West-Berlin, in dem er auch Martin begegnet ist, seit kurzem besingt: „Where Are We Now?“ Der Sänger wird nicht müde zu erklären, dass West-Berlin seine Rettung war, seine glücklichen Jahre im Dschungel und an der Spree sollen jetzt sogar verfilmt werden. Martin hat sich gerettet, indem er die Stadt verlassen hat. Mit einem Trommelwirbel, mit Kippenberger-Geburtstags-Festspielen hat er sich verabschiedet. Sie begannen am 25. Februar mit der Vorstellung seines Buchs „Durch die Pubertät zum Erfolg“ und endeten einen Monat später mit einer Performance im damals noch neuen Café Einstein. Dazwischen lagen diverse Ausstellungseröffnungen, „Kippenberger in Nudelauflauf sehr gerne“ in der Galerie Petersen, „Lieber Maler male mir“ in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst. In Berlin hatte Martin Kunst bis dahin gelebt, nicht produziert. Eigentlich, fand er, konnte man nicht mehr malen. Aber dann fand er doch einen – konzeptuellen – Weg, beauftragte einen Kinoplakatmaler, seine Fotovorlagen auf riesige Leinwände zu bringen. Wenn schon, dann richtig. „Angeber“ nannte er sich.

Er hat sich damals selbst eingeladen ins Realismusstudio der NGBK, ist hingegangen und hat gesagt: Ich will. Das hat er noch oft gemacht, das hatte er von unserem Vater gelernt. Martin wusste, er hat keine Zeit, auf Einladungen zu warten, musste zusehen, dass er sich so schnell wie möglich ausbreitete, mit Ausstellungen, Aufklebern, Einladungskarten, Plakaten, Skulpturen, Zeichnungen, Büchern, en masse, mit Künstlerextremverhalten. „Ich nutze alle Möglichkeiten, um etwas aufzubauen, was sich selbst hält, für sich spricht, denn bevor ich die anderen ,Anerkennungen’ bekomme, wie ‚Im-Museum-Hängen’, sehe ich eher die Museumsdirektoren hängen. Und das wird nicht geschehen.“

Martins Rettung nach dem wilden Berlin war der Schwarzwald, die Familie Grässlin, die zu seinen treuesten Sammlern wurde. In St. Georgen verschrieb er sich dem „Sahara- und Anti-Saharaprogramm“, viel Arbeit, wenig Alkohol. Nach ein paar Monaten war er wieder weg.

Martin ist nie lange geblieben an einem Ort. „Heimweh Highway“, so hat er einen Katalog genannt, knapper kann man sein Leben nicht fassen. Immer war er auf der Überholspur unterwegs, von einer Stadt zum nächsten Projekt, Essen, Hamburg, Florenz, Berlin, Stuttgart, St. Georgen, Köln, Sevilla, Los Angeles, Frankfurt, Madrid, Kassel, Griechenland, Wien, Burgenland. „Input-Output“ nannte er eine Serie von Zeichnungen mit den Grundrissen seiner Wohnungen. Gleichzeitig war er getrieben von der Sehnsucht, anzukommen. „Ist mir noch nie gelungen“, hat Martin 1991 im Interview mit Jutta Koether erklärt, „aber der Wille ist nach wie vor da.“ Menschen, nicht Orte wurden sein Zuhause. Familie, Freunde, Künstler, Sammler, Galeristen.

Nach Berlin ist Martin später vor allem zurückgekehrt, um in die Paris Bar zu gehen, der Wirt, Michel Würthle, war sein bester Freund. Das Berlin der Nachwendezeit mochte er nicht, er hat nicht verstanden, dass die Stadt die Mauer und damit die Geschichte einfach entsorgt.

Im Berlin der Nachwendezeit blies ihm der eiskalte Wind der politischen Korrektheit entgegen. Jetzt war Schluss mit lustig. Martin, der sich an keine ideologischen Vorgaben hielt, der mit Arbeiten wie „Krieg böse“ linke Selbstgefälligkeit und Gutmenschentum attackierte – „Was ist Ihre Lieblingsminderheit?“ –, wurde mit der Moralkeule erschlagen.

„Kippenberger raus aus Berlin“: Der Spruch, mit dem er Anfang der 80er Jahre die Kneipenklos vollpflasterte, war mehr als ein Marketinggag in eigener Sache. Schon damals haben ihn viele gehasst, weil er war, wie er war, und sich nicht an die Regeln anderer hielt. Die Freunde von Ratten Jenny haben ihn damals zusammengeschlagen, er schlug mit seinen Mitteln zurück: mit Kunst. Und mit Witz. „Dialog mit der Jugend“ nannte er das Selbstporträt mit verbundenem Kopf, das zur Ikone wurde. Jetzt, Anfang der 90er, wurde er noch mal so heftig verprügelt, nur die Waffen waren andere: Der Hass entlud sich verbal. Als „Schlüpferstürmer“, „deutscher Kleingärtner“, „Leithammel einer avantgardegläubigen Schafsherde“ beschimpften sie ihn, als „Entertainer gelangweilter Yuppies“, der sein Publikum mit „spätpubertären Erektionen“ quälte. Im Kippenberger-Bashing waren sich die Kritiker von links und rechts einig.

Anlass war vor allem 1994 seine große Ausstellung im Kunstverein in Potsdam, vor den Toren Berlins, lauter Arbeiten aus der Sammlung Grässlin. „Kippenberger fanden wir schon immer gut,“ stand auf dem Katalog. Der Ost-Berliner Kurator, Christoph Tannert, wurde für Marius Babias zum „neuen Kartenabreißer in Kippenbergers Peep-Show“. Erleichtert hielt Babias fest: „Seriöse deutsche Museen weigern sich bis heute, Retrospektiven mit Kippenberger einzurichten.“

Das Rotterdamer Boijmans Van Beuningen, das Hirshhorn Museum in Washington, das Pariser Centre Pompidou hatten da keine Berührungsängste. Sie machten zu dieser Zeit mit Martin große Ausstellungen. Als er starb, so Gisela Capitain, seine Galeristin und Nachlassverwalterin, hatte das Museum of Modern Art mehr Arbeiten von ihm als alle deutschen Museen zusammen. Junge Künstler haben ihn schon damals verehrt, das Schmutzige, Freche, ungeheuer Vielfältige, das Fehlerhafte und Menschliche seiner Arbeit inspiriert sie bis heute. Klovorleger, Haferflocken und Europaletten, das ist das Material, aus dem Martins Werke sind. Eier und Nudeln gehören zu seinen Lieblingsmotiven. Banal? So banal wie das Leben.

Als die Akademie der Künste Martin 1996 den Käthe-Kollwitz-Preis zusprach, eine Entscheidung, die Tannert als „eine Art Heimholung“ begriff, waren seine Gegner fassungslos. Preisverleihung und Ausstellungseröffnung fanden ein Jahr später, eine Woche nach seinem Tod, statt. Da gingen vielen die Augen auf. „Arbeiten bis alles geklärt ist“, hieß seine Devise. Zum Nichtstun war Martin nicht gemacht. Es war anstrengend, das Leben, das er geführt hat im Namen der Kunst. Extrem anstrengend. Er war immer im Dienst, wie Gisela Capitain sagt. Auch, ja, gerade, wenn er mit anderen in der Kneipe saß.

Für den „Hordenmenschen“, wie er sich nannte, gab es kein Ich ohne andere, kein Kunstwerk ohne Zusammenhang. Seine Arbeiten entstanden immer in Auseinandersetzung mit anderen Künstlern, ob tot oder lebendig. Oehlen, Picasso, Beuys, Géricault. Er liebte den Input von jemandem wie Uli Strotjohann, der viele seiner Skulpturen baute. Ein Jahr vor seinem Tod hatte er noch geheiratet, die Fotografin Elfie Semotan. In ihrem Haus im hintersten Burgenland malte er sich in den Posen der Schiffbrüchigen auf dem „Floß der Medusa“ von Géricault, so, wie sie ihn fotografiert hatte, zwischen Leben und Tod, Hoffnung und Verzweiflung. Er malte sich so, wie er kurze Zeit später im Sterben selber aussah, mit geschundenem Körper. Nackt bis auf die Armbanduhr. Die Zeit lief aus.

Die Medusa war seine letzte große, vielleicht seine wichtigste, auf jeden Fall berührendste Serie. Mit großer Lust hat er gearbeitet daran. Eine Freundin wurde verdonnert, jeden Nachmittag zum Gucken ins Atelier zu kommen. Drei Wochen lang, und jeden Tag war wieder was Neues da, „das war wie ein Strom, im nächsten Bild ging das weiter, als hätte er so in sich reingeguckt und nach und nach alles rausgeholt – und noch ein Bild! Und noch eine Zeichnung!“. Zufrieden, so der Eindruck von Margarete Heck, ist er mit seiner Arbeit gewesen. „Sehr zufrieden.“ Danach gingen sie ins Gasthaus, Blutwurst essen, Rotwein trinken.

„Es wäre gescheiter, das Leben ginge weiter“, hat Martin in jungen Jahren in seinem Ohrwurm „Yuppidu“ gesungen. Seinen letzten Geburtstag, den 44., hat er im Krankenhaus verbracht. Im Wiener AKH, einem schaurigen Ort. Wenn er nur die Kraft gehabt hätte, wäre er aufgestanden und gegangen. Er wollte raus, wollte nicht eingesperrt, ausgeliefert sein.

Als unsere Mutter 1976 an den Folgen eines Unfalls starb, nannte Martin das den Übergang von der Mutter zur toten Mutter. Nur weil sie tot war, hörte sie ja nicht auf, seine Mutter zu sein. Genauso wenig wie er mit seinem Tod 1997 aufhörte, Künstler zu sein. Jetzt war er halt ein toter Künstler. So begann das, was das Karlsruher ZKM in seiner Ausstellung zum 50. Geburtstag „Das 2. Sein“ nannte. Es war wie eine zweite Geburt, man könnte jetzt auch Martins 16. Geburtstag als toter Künstler feiern. Plötzlich wurde er gesehen, mit immer wieder neuen Augen. Wurde zum Star, Hass und Ablehnung schlugen in Heldenverehrung um. Jetzt fanden ihn auch die gut, die ihn vorher blöd fanden, und jene, die den Wert von Kunst an Auktionspreisen bemessen. Jetzt wurde er mit großen Ausstellungen geehrt. Vor drei Jahren kam er im Olymp an, im New Yorker Museum of Modern Art.

Zu seinem 40. Geburtstag, einer dreitägigen Orgie im Schwarzwald, die manche seiner Freunde schwänzten, weil sie keine Lust oder keine Kraft mehr dazu hatten, ließ Martin sich eine Carrera-Bahn schenken. Es war ja etwas Kindliches in ihm, bis zum Schluss, diese Neugier, diese Direktheit, diese hemmungslose Lust am Leben und an der Kunst, am Kunstschaffen und Kunstgucken, am Ausstellen und Lehren, am Reden und an Künstlern.

„Heavy Burschi“, so hieß die – für viele verstörende – Ausstellung 1991 im Kölner Kunstverein, von Marianne Stockebrand als Leiterin eingerichtet. Ihr Nachfolger war Udo Kittelmann. Jetzt, als Direktor der Neuen Nationalgalerie Berlin, zeigt er mit der Kuratorin Britta Schmitz, dass Martin das noch immer ist: ein heavy Burschi. Ein großer Künstler, ein lebendiger, sperriger auch, einer, der ärgern und überraschen kann. Mit der Schau im Hamburger Bahnhof, die am Freitag eröffnet, wird Martin Leute zum Lachen bringen und zum Denken. Wie heißt gleich noch der Titel dieses 60.-Geburtstagsgeschenks: „Sehr gut – very good.“

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