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Kultur: Retten, sammeln und verstreuen

Der Stuttgarter Antiquar Herbert Blank hat Walter Benjamins Bibliothek rekonstruiert

In einem Zweifamilienhaus am Rande von Stuttgart, unweit des Flughafens, steht Walter Benjamins Bibliothek. So, wie sie der Antiquar Herbert Blank in den letzten zwei Jahrzehnten rekonstruiert hat. Sie ist nicht ganz vollständig. Ein paar Bücher fehlen in jeder Bibliothek. Das Fehlen eines bestimmten Werkes aber schmerzt doch: Johann Wilhelm Ritters „Fragmente aus dem Nachlass eines jungen Physikers“, herausgegeben 1810 und danach nie wieder aufgelegt.

Auch Benjamin hatte schon lange nach dem Buch gesucht, als es 1915 in Berlin in einem Auktionskatalog angezeigt wurde. Bevor es dann auf der Auktion an der Reihe war, hatte Benjamin bei einigen naturphilosophischen Büchern mitgeboten, und bemerkt, dass da ein Konkurrent war, der nur auf ein Gebot von ihm zu warten schien, um ihn dann aus dem Rennen zu werfen. Er musste eine List anwenden. „Im Augenblick, da man die Nummer ausrief, kam mir die Erleuchtung. Da mein Gebot die Nummer unfehlbar dem anderen zuschanzen musste, durfte ich gar nicht bieten.“ Benjamin hatte den richtigen Instinkt. Niemand interessierte sich für den Ritter, das Buch ging zurück. Ein paar Tage später stand es wieder im Antiquariat „und der Mangel an Interesse, welchen man ihm bewiesen hatte, kam mir bei der Erwerbung zustatten.“

Das Fehlen der „Fragmente“ schmerzt, weil das Vorwort, ein Nachruf des Autors auf den fiktiven Freund, Benjamin als „die bedeutendste persönliche Prosa der deutschen Romantik erschienen“ war. Vor 30 Jahren hatte Blank schon einmal ein Exemplar, „ein unbeschnittenes Exemplar, ich war sehr stolz, und der Preis war ebenso stolz.“ Nur wollte es jahrelang keiner haben. Irgendwann hat es dann eine Bibliothek gekauft. Seither ist kein Exemplar mehr aufgetaucht.

Sammler wissen nicht nur etwas über den Inhalt von Büchern, sondern auch etwas über das Schicksal von Exemplaren, und das wesentliche Ereignis im Schicksal eines Exemplars ist, so Benjamin, „der Zusammenstoß mit ihm“, dem Sammler. „Für den wahren Sammler ist die Erwerbung eines alten Buches dessen Wiedergeburt.“ Walter Benjamin, der von seinem „inneren Bedürfnis, eine Bibliothek zu besitzen“ sprach, der sich hinreißen ließ, für die Ersteigerung von Balzacs Roman „Peau de chagrins“ mit der kompletten Folge von Illustrationen auf China-Papier eine Summe zu bieten, die ihn am nächsten Tag ins Leihhaus zwang, war es nie vergönnt, seine gesamte Bibliothek ins Regal stellen und anschauen zu können.

In Berlin verhinderten das zunächst seine Wohnverhältnisse, und nachdem er emigrieren musste, dauerte es Jahre, bis es ihm gelungen war, überhaupt Bücher aus Berlin herauszubekommen, und dann, in Paris, schrieb er am 6.Dezember 1937 an Max Horkheimer: „Erfreulicherweise kann ich Ihnen heute berichten, dass ich, nach manchen Mühen, eine Wohnung gefunden habe, die ich am 15. Januar werde beziehen können. Sie hat ein Zimmer; es ist nicht allzu groß; es wird mir nicht ermöglichen, den geretteten Teil meiner Bibliothek ganz aufzustellen“.

Länger schon als ein halbes Jahrhundert handelt Herbert Blank mit alten Büchern, seit über 40 Jahren im eigenen Antiquariat, spezialisiert auf Erstausgaben deutscher Literatur und Philosophie von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Das ist keine Ware, die man im Schaufenster auslegt. Ein Buchhändler wie Blank hat keine Laufkundschaft. Seine Schaufenster sind seine Kataloge. Etwa tausend Kunden schickt er Kataloge zu Antiquariatsmessen, alle drei bis vier Jahre einen zur Philosophie, immer mal wieder einen zur Literatur. Das ist die Pflicht. Doch nach der Pflicht kommt die Kür: Blanks Themenkataloge. Da geht es um die Welt der Aufklärung, um die Französische Revolution, die Deutsche Romantik, die Lesewelt Goethes, oder um Erstausgaben aller Autoren der Gruppe 47, oder um die der Abgeordneten der Paulskirche.

Über 40 Bibliotheken hat Blank im Lauf der letzten fünfzig Jahre aus dem Nachlass von Hochschullehrern und Philosophen gekauft, gesichtet, geordnet, und was er nicht selbst behalten wollte, weiterverkauft. Mit Benjamin geht er nun den umgekehrten Weg, er holt aus der Welt die Bücher heraus, die Benjamin gelesen hat, und zwar in eben jener Edition. Wo jetzt Benjamins Bibliothek steht, stand bis vor fünf Jahren noch die Franz Kafkas. Die hat allerdings mit etwa 800 Bänden wesentlich weniger Platz eingenommen.

Wenn erst einmal die Idee, eine Bibliothek zu rekonstruieren, da ist, geht die Suche los, und zwar „zunächst im eigenen Antiquariat. Als ich mir die Kafka-Bibliothek dann tatsächlich selbst vor Augen stellen wollte, habe ich innerhalb von wenigen Wochen schon ein paar hundert Bücher hier aus dem Hause selbst zusammengestellt. Das war schon da. Es stand nur nicht unter dem Zeichen Kafkas Bibliothek. Bei Benjamin war das genauso.“

Mitte der 1960er Jahre stößt Blank in der Grabbelkiste eines Berner Kollegen auf eine Dissertation mit dem Titel „Der Begriff der Kunstkritik in der Deutschen Romantik“. Der Autor Benjamin sagt ihm noch nichts, er kauft es trotzdem für einen nicht nennenswerten Betrag. Es kauft der philosophische Leser in ihm, nicht der Kaufmann.

Wie hoch die Auflage von Benjamins erster Veröffentlichung war, weiß er nicht. Er weiß aber, dass ein Brand in der Druckerei sie bis auf 37 Exemplare vernichtet hat. Und dass der Verleger, als Benjamin ihn bewegen wollte, sein Werk nachzudrucken, mit der Bemerkung abgewinkt hat, die 37 Stück würden noch auf Jahre reichen. Tatsächlich meldete sich jahrelang kein Interessent. Irgendwann kaufte es eine Universität – für 18 Mark.

Ein paar Jahre später war es einer seiner besonders guten Kunden, der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der die Neugier des Antiquars auf Benjamin steigerte. Und zwar sowohl die des philosophisch interessierten Lesers als auch die des Kaufmanns. Er bot ihm alle seine Benjamin-Erstausgaben an. „Sehr teuer“, sagt Blank. Inzwischen war Benjamin schon ein offener Geheimtipp. „Allein die Dissertation musste ich für zweieinhalb tausend verkaufen, um einigermaßen aus der Sache raus zu kommen.“ Das war das zweite Exemplar, das durch seine Hände ging. Das dritte gehörte ursprünglich der Stuttgarter Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger. Der Antiquar zeigte es in einem Katalog an, mit Anstreichungen Käte Hamburgers, und verkaufte es für zweitausend Mark nach Amerika. Als er schließlich die Idee hatte, Benjamins Bibliothek zu rekonstruieren, wurde einem befreundeten Kollegen ein Exemplar angeboten, für achttausend Mark. Blank bat ihn, sofort zuzugreifen. Und als er es schließlich in Händen hielt, sah er, dass es Hamburgers Exemplar war.

Auf über 3000 Titel ist die Sammlung angewachsen, der Katalog „In Walter Benjamins Bibliothek“ mit Einleitungen, Anmerkungen und Zitaten auf über 500 Seiten, ein wissenschaftliches Werk. Er wird die Bibliothek sichtbar werden lassen, die hinter Benjamins Werk steht und doch so nie eine Bibliothek war. In drei Bänden wird Blank den Katalog herausgeben, Band eins erscheint in diesen Tagen. Ob Benjamins Bibliothek noch lange in seinen Regalen stehen wird? „Es wäre sicher eine große Freude, wenn eine solche Arbeit einer Stelle dienen könnte, die sich konzentriert mit Benjamin beschäftigt“, sagt Blank, „aber wenn sich da niemand findet, dann muss es eben wieder in die Welt verstreut werden, wie ich es aus der Welt herausgeholt habe.“

Der erste Teil des Katalogs ist gegen eine Schutzgebühr von zehn Euro erhältlich bei Herbert Blank, Melonenstr. 54, 70619 Stuttgart. Fax: 0711/478408. – Am Dienstag beginnt in Berlin ein sechstägiges Benjamin-Festival. Programminfos: www.benjamin-festival-berlin.de

Burkhard Meise

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