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Katherine Waterston und Vanessa Kirby in „The World to Come“.

© Festival

Tagebuch von den Filmfestspielen Venedig (4): Revolten der Würde

Warum das Festival dieses Jahr in Vanessa-Kirby-Festspiele umbenannt werden könnte – und wie Milo Rau auf Jesus schaut.

Von Andreas Busche

Ein Löwe hält momentan Italien in Atem, und es hat ausnahmsweise nichts mit dem Filmfestival Venedig zu tun. Seit Freitag liegt Italiens politisches Stehaufmännchen Silvio Berlusconi mit Lungenentzündung im Krankenhaus, das nächste Covid-Opfer, das sich in der Öffentlichkeit gerne maskenlos gezeigt hat.

Dabei zählt der 84-jährige nun wirklich zum engeren Kreis der Risikogruppe. Aber der politische Ruf des unkaputtbaren Berlusconi zehrt ja gerade von seiner Resilienz, mehrere Parteifreunde sagen nun, er habe die Konstitution eines Löwen und wünschen ihm ein baldige Rückkehr.

Liebe auf den ersten Blick zwischen zwei Siedlerinnen

Der „Kaiman“ Berlusconi ist in seiner Laufbahn schon als so manches Tier bezeichnet worden – aber vielleicht war er es ja auch als Wink in Richtung Venedig zu verstehen. Wie der Markuslöwe (Flügel, Gesetzbuch, Schwert) vereinigte schließlich auch Berlusconi ein Vierteljahrhundert lang die drei Staatsgewalten in seiner Gestalt.

Derweil haben am Wochenende die Löwen-Kandidaten beim Filmfestival Zuwachs bekommen. Mona Fastvolds historisches Drama „The World to Come“ gehört zu den Filmen, die man am Lido mit Spannung erwartet hat, ihre zweite Regiearbeit erzählt über einen Jahreszeiten-Zyklus die Liebesgeschichte zwischen zwei Siedlerinnen Mitte des 19. Jahrhunderts.

Katherine Waterston und Vanessa Kirby spielen die beiden Frauen, die sich in der amerikanischen Wildnis buchstäblich auf den ersten Blick ineinander vergucken. Ihre Männer (Casey Affleck, Christopher Abbot) beobachten die Avancen von Abigail und Tallie, für die sie noch keine Begriffe haben, misstrauisch, verständnislos – aggressiv. Und auch die Frauen müssen erst Worte für ihre Gefühle finden: Vorsichtig nähern sie sich an, ohne gesellschaftliche Restriktionen.

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Mit „weiblicher Innerlichkeit“ beschreibt Fastvold die Perspektive ihres Films. Abigail ist die Intellektuelle, Waterston wirkt anfangs wie hinter einem Schleier, der sich langsam lichtet. Ihr Voiceover aus Tagebuch-Einträgen dient dabei weniger als Stilmittel, sondern eröffnet eine ganz neue Erzählebene. Waterstons Stimme legt sich wie Morgentau über die milchig ausgeleuchteten Landschaftsaufnahmen von André Chemetoff (auf 16mm), als schließlich der Frühling anbricht.

Kirby spielt gerade ohnehin in ihrer eigenen Liga, nach „Pieces of a Woman“ ist das ihr zweiter herausragender Auftritt am Wochenende. Man könnte das Festival dieses Jahr auch einfach in Vanessa-Kirby-Festspiele umbenennen.

Milo Rau ist dieses Jahr ebenfalls am Lido, sein Film „Das Neue Evangelium“ läuft außer Konkurrenz. Raus Dokumentarfilme wirken ja immer ein wenig wie Materialstudien zu seinen Theaterprojekten. 2019 wurde er in Europas Kulturhauptstadt Matera in Süditalien eingeladen, um einen Bibelfilm zu drehen. In Matera kommen Filmgeschichte und aktuelle Europa-Politik zusammen.

Jesus als Sozialrevolutionär

Hier drehten Pasolini und Mel Gibson ihre Jesus-Filme, heute leben in den Camps vor der Stadt afrikanische Geflüchtete. Rau bringt beides zusammen: Er besetzt seinen Film mit den Afrikanern, die Jesus-Rolle übernimmt Yvan Sagnet, der in Matera für die Rechte der Landarbeiter kämpft.

Einen religiösen Bibelfilm sollte man von Rau natürlich nicht erwarten. Sein Jesus ist ein Sozialrevolutionär, die Dreharbeiten und der Aktivismus der Darsteller beginnen sich zu überlagern: Jesus ruft eine „Revolte der Würde“ aus. Rau filmt die sozialen Unruhen, die er heraufbeschwört aus der Distanz, manchmal tritt er als Vermittler auf. Wie er den Geflüchteten Handlungsmacht zurückgibt, hat selbst etwas messianisches. „Das Neue Evangelium“ schrammt auch haarscharf an der Exploitation vorbei.

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