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Szene aus "Wolfskinder".

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Rick Ostermanns Spielfilm „Wolfskinder“: Verloren in Ostpreußen

Rick Ostermanns Spielfilmdebüt "Wolfskinder" rückt ein wenig bekanntes Thema ins Licht: das Schicksal der sogenannten Wolfskinder, deutscher Waisen , die sich nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Wälder Litauens schlugen.

Acht lange Minuten verstreichen, bis im Film „Wolfskinder“ die ersten Sätze fallen. Der 14-jährige Hans (Levin Liam) liest sie vor, mühsam, stockend, aus Charles Darwins „Reise eines Naturforschers um die Welt“. Es geht darin um Schildkröten auf den Galapagosinseln, um die Theorie der Evolution. Hans sitzt, das Gesicht verdreckt, die Kleidung abgewetzt, in einem kärglich eingerichteten, bunkerartigen Turm, irgendwo im Ostpreußen des Jahres 1946.

Eine Kerze erhellt den Raum dürftig, sie wirft ihr Licht auf die Mutter (Jördis Triebel), ins Stroh gebettet, die Stirn vor Fieberschweiß glänzend. Am nächsten Morgen ist sie tot. Hans und sein kleiner Bruder sind fortan auf sich selbst gestellt. Sie brechen auf Richtung Litauen, in der Hoffnung auf Bauern, die ihnen Obdach gewähren. Rick Ostermanns Spielfilmdebüt rückt ein wenig bekanntes Thema in den Mittelpunkt, das Schicksal sogenannter Wolfskinder, deutscher Waisen aus dem Gebiet des ehemaligen Ostpreußens, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch die Wälder Litauens schlugen.

Wer ist Freund, wer Feind?

In Ostermanns Film zeigt Hans kaum kindliche Unbekümmertheit, sein Schicksal lässt keinen Platz dafür. Er redet wenig, lächelt selten. Der tägliche Überlebenskampf härtet ab. Er und die anderen Kinder stehlen und erschießen ein Pferd, um ihm das noch warme Fleisch aus der Flanke zu schneiden. Sie fangen Frösche, rupfen Hühner, schlingen die rohe Nahrung in sich hinein, lecken sich gierig die spärlichen Reste erbeuteter Vogeleier von den Fingern. Schon früh verliert Hans den kleinen Bruder, auf der Flucht vor Soldaten der Roten Armee, die keine Skrupel zeigen, auch Kinder zu erschießen. Hans entkommt, immer wieder stoßen andere Elternlose zu ihm, kaum im Grundschulalter.

Der Film „Lore“, inszeniert von der Australierin Cate Shortland , erzählte vor zwei Jahren eine Nachkriegsodyssee aus der Sicht eines antisemitisch geprägten Mädchens. Die Wolfskinder hingegen sind in keiner Weise politisiert. Es geht ihnen allein ums Durchkommen. Hinter jedem Baum müssen sie sowjetische Besatzungssoldaten fürchten. Zugleich treffen sie auf ihrem Weg durch die Wälder auf litauische Partisanen. Doch wer ist Freund, wer Feind? Wohin führt der Weg, wo gibt es Sicherheit? Die Hilflosigkeit dieser Kinder, ihr verinnerlichtes Misstrauen fängt der Film ein, bleibt dabei dennoch unaufgeregt.

Szene aus "Wolfskinder".
Der Film exerziert Darwins Theorie des "Survival of the Fittest".

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Survival of the Fittest

Er erreicht das, indem er mitstreift, in langen, ruhigen Einstellungen. Indem er die so widersinnig idyllischen Sommerlandschaften zeigt. Birkenwälder im milden Sonnenlicht, sich im Wind wiegendes Getreide, regennasse Wiesen, auf deren Halmen Libellen hocken. Zwei Momente später stapft Hans flüchtend durch Sümpfe, einen kleinen Jungen auf dem Rücken. Allein dass Hans’ einziges Buch, sein stiller Rückzugsort, ausgerechnet eine Schrift Darwins ist, wirkt im sonst so wohltuend schmucklosen Drehbuch als zu gewollter Verweis. Natürlich spiegelt sich das „Survival of the Fittest“ im gnadenlosen Alltag der Kinder wider, natürlich sichert ihnen nur die Anpassung an ihre Umwelt das Überleben.

Regisseur und Autor Ostermann weckt die Erinnerung an ein historisch verbürgtes Thema und erzählt zugleich die zeitlose Geschichte von Kindern zwischen militärischen Fronten, schuldlos und schutzlos den weltpolitischen Konflikten ausgeliefert. Gerade dieser Tage kann ein Bewusstsein dafür nicht schaden.

Babylon Mitte, Filmkunst 66, Passage

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