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Kultur: Riss im Kopf

Plötzlich war er da, wie ein Komet. Und ist, durch ein Unglück, so schnell, so früh verglüht.

Plötzlich war er da, wie ein Komet. Und ist, durch ein Unglück, so schnell, so früh verglüht. Martin Sperr war ein Urniederbayer, aber sein Licht ging weit oben im Norden auf. In Bremen, wo 1965 das wildeste, kühnste, genialste Theater der noch jungen, gerade aus dem Adenauer-Trott erwachten Bundesrepublik über die Bühne tobte. Peter Zadek, Wilfried Minks, später auch Peter Stein und Fassbinder und die Schauspieler Ganz, Clever, Lampe, Glowna waren dort die Stars, und die Pop-Generation eroberte erstmals ein Staatstheater. Martin Sperr muss da völlig verquer gewirkt haben, ein 21-jähriger Hilfsarbeiter, Nachtportier und Statist, mit schwerer Bajuwarenzunge. Doch die Nordlichter erkannten sofort, was er als sein erstes Stück auf den Tisch legte. Es hieß "Jagdszenen aus Niederbayern", eine düstere, blutige Nachkriegsgeschichte von geilen, bösen, bigotten Dörflern, von Liebe, Mord und Totschlag. Das Stück, in Bremen uraufgeführt, wurde preisgekrönt, der junge Autor, schon als bayerischer Büchner gehandelt, landete sofort beim Suhrkamp Verlag, und Peter Fleischmanns Verfilmung des Stoffs war 1968 / 69 ein Ereignis, Angela Winkler und Hanna Schygulla spielten mit, und der Autor war der Hauptdarsteller, Berlinale, Locarno, Bundesfilmpreis.

Der Sperr schien ein Glückskind. Für Zadeks legendäres Bremer "Maß für Maß" machte Sperr die neujugenddeutsche Shakespeare-Übersetzung, und in München startete 1967 ein unbekannter Regieassistent seine erste Inszenierung: Edwards Bond "Gerettet", das berüchtigt Jugendgang-Stück mit dem gesteinigten Baby im Kinderwagen. Sperr machte eine bayerische Fassung - und der Regisseur namens Peter Stein war mit der Aufführung über Nacht berühmt. Auch Sperr schien unaufhaltsam: Sein zweites Drama "Landshuter Erzählungen" und dann "Münchner Freiheit" bestätigten sein Talent, mit pointiert gesetztem Dialekt an einer neuen, sozialkritischen Heimatsaga zu schreiben. Er war, noch vor seinem Landsmann Franz Xaver Kroetz, ein Wiedererfinder des realistisch-poetischen Volksstücks: Nachfahre Ödön von Horváths und der damals gerade wiederentdeckten Marieluise Fleißer. Die Fleißerin erkor den Sperr und den Kroetz dann auch gleich zu ihren wahren "Söhnen".

Der Erfolg hielt an. Zusammen mit Reinhard Hauff filmte er die linke Robin-Hood-Story vom "Räuber Matthias Kneissl", und im Fernsehen glänzte Sperrs Geschichte von der hinterfotzigen Münchner Bankengründerin und Bankbetrügerin Adele Spitzeder. Dann kam das Unglück. Bei einem Reifenwechsel platzte Sperr 1972 eine Ader im Hirn. Nach langem Koma wurde er am Rande der Debilität erweckt, fand noch ein wenig zum Spielen und Schreiben zurück. Aber wenn man ihn im Fernsehen oder auf Münchner Kleinbühnen sah, war man erschrocken über den aufgeschwemmten Fleischberg - und einen glasigen, weichen Menschen. Dessen Furor und Genie mit einem Schlag zerstört waren. Für seine Bühnenversion der "Spitzeder" erhielt er zwar noch 1978 den Mülheimer Dramatikerpreis. Doch der Sozialkritiker war künstlerisch, menschlich ein Sozialfall geworden. Eine Tragödie. Jetzt ist Martin Sperr in Landshut gestorben, mit 57 Jahren.

P.v.B.

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