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Kultur: Robiniengeschwader in Benns Blütenmeer - Mit Lutz Seiler gewinnt in Meran der ferne deutsche Osten

Meran ist ein guter Ort für Blumen wie für Lyrik. Die klimatisch begünstigte Kurstadt wird im Norden von den über 3000 Meter hohen Bergen der Texelgruppe abgeschirmt, während das Talbecken gegen den warmen Süden geöffnet ist.

Meran ist ein guter Ort für Blumen wie für Lyrik. Die klimatisch begünstigte Kurstadt wird im Norden von den über 3000 Meter hohen Bergen der Texelgruppe abgeschirmt, während das Talbecken gegen den warmen Süden geöffnet ist. Im Jahresdurchschnitt ergibt diese besondere geographische Konstellation eine Temperatur von mindestens zwölf Grad Celsius. "Das milde Klima reizte hochgesinnte Bürger, auch exotische Gewächse anzupflanzen", vermerkt eine Broschüre, die von den örtlichen Hotelportiers herausgegeben wurde. Der ebenso blaublütige wie blaublühende Japanische Kaiserbaum gedeiht hier, nicht weniger die zahlreich herbeigereisten Literaten. Für Franz Kafka, Ezra Pound, Arthur Schnitzler und die anderen wurde eine "Poetenpromenade" in der Gilfschlucht angelegt. Hochgesinnt, hochgestimmt erscheint in Meran so manches - schon klassisch ist Gottfried Benns flehentlicher Appell "März. Brief nach Meran" an die Südtiroler Bäume: "Blüht nicht zu früh, ach blüht erst, wenn ich komme, dann sprüht erst euer Meer und euren Schaum, Mandeln, Forsythien, unzerspaltene Sonne - dem Tal den Schimmer und dem Ich den Traum."

Mein Jahrgang, dreiundsechzig

Nun sind die "Robiniengeschwader" Lutz Seilers in Meran gelandet. Es handelt sich um diffizile Gewächse aus kargen östlichen Ebenen. Mitunter haftet ihnen melancholische, aus der deutschen Geschichte rührende Erdenschwere an. Gleichwohl gelangten sie im günstigen Klima des 5. Lyrikpreises Meran zu voller, schönster Blüte: der angehende Suhrkamp-Autor (sein Gedichtband "pech&blende" erscheint im Juni) gewann dank der überwältigenden Einmütigkeit der Jury den mit 15.000 Mark dotierten Hauptpreis.

Zuletzt war er mit dem Kranichsteiner Literaturpreis ausgezeichnet worden (Der Tagesspiegel vom 3.12.99). Es ist ein Phänomen, dass die düsteren DDR-Kindheitsszenarien Seilers, die seinem Schreiben immanenten Alpträume von der Diktatur auch hier, im fernen und freiheitlichen Tirol, so großen Anklang fanden. Das spricht für die Qualität und universelle Ausdruckskraft von Gedichten wie "im osten, lisa rothe" oder "mein jahrgang, dreiundsechzig, jene", das vom unentrinnbaren Zwang zum Kollektiv handelt: "wir hatten gagarin / aber gagarin / hatte auch uns."

"Der Lyrikpreis hat heuer wiederum einen Sieger aus den Reihen ostdeutscher Befindlichkeiten", bemerkte die Südtiroler Zeitung "Dolomiten" zu Kathrin Schmidts Erfolg im Jahre 1994. Jetzt wiederholte sich der Vorgang. Nie habe sie gedacht, sagte die Zürcher Jurorin Sibylle Omlin gutherzig, dass der "Sound der Traurigkeit" so schön sein könne. Ihre Mitjuroren waren: Hans Jürgen Balmes vom S. Fischer Verlag, die Germanisten Johann Holzner und Arno Dusini aus Innsbruck respektive Wien, der Salzburger Literaturkritiker Anton Thuswaldner sowie, als einziger Lyriker nach der Absage Ulla Hahns, Kurt Drawert.

Drawert, der 1993 sowohl den Lyrikpreis Meran als auch mit seinem hochemotionalen Text "Haus ohne Menschen" den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hatte, bescheinigte seinem ostdeutschen Landsmann Lutz Seiler, soviel sinnliches Material aus der DDR wie kein anderer Lyriker mit großer Kraft und Schönheit in Bilder transportiert zu haben. In "gravitation", ebenfalls ein dunkler Erinnerungstext, in dem unvermutet die "robiniengeschwader" auftauchen, heißt es programmatisch: "jedes gedicht / nagt am singenden knochen, es / ist auf kinderhöhe abgegriffen / und erzählt".

Die außerordentliche Zugewandtheit und Ernsthaftigkeit der Diskussionen ist ein Gütezeichen des Meraner Wettbewerbs. Dazu fügt sich die hervorragende Organisation vor Ort, im Jugendstiljuwel des Kurhauses und dem Erzherzog-Johann-Saal: gediegene Kulissen für erlesene Metaphern. Dieser traditionsbewusste Rahmen bedingte fast automatisch eine Klassizität, die es einem "moderneren" Kandidaten wie Arne Rautenberg aus Kiel nicht leicht machte. Er borgt sich des Dichters "ewiges Blau" beim Licht der Araltankstellen und besingt in kühner Balance von Binnen- und Stabreimen die Männer vom UPS-Dienst. Hinter den "Hip-hop-Botschaften einer Generation, die nichts anderes hat" (Drawert) verbirgt sich mehr: der Widerstand gegen existentielle Verluste.

Glück hinter einer Zimmerpflanze

Um Existenzsicherung, allerdings wesentlich konventioneller, geht es gleichfalls in den Gedichten von Brigitte Fuchs. Die Schweizerin war als einzige Frau unter die neun Finalisten geraten, von denen der schillernde Karlheinz Barwasser kurzerhand wieder absagte. Einer Vorjury hatte 420 anonymisierte Zusendungen gesichtet und teils prominente Namen aussortiert, wie im nachhinein durchsickerte. Brigitte Fuchs, die mit dem ersten Förderpreis ausgezeichnet wurde (6000 DM), stellt ihr feines Handwerk in den Dienst des Interieurs. Die kleinen Glücksmomente körperlicher Liebe finden im Büro hinter einer Zimmerpflanze statt, allerdings im Blick der Kamera. Binsenweisheiten sind auch bei dieser soliden Dichterin ein sicheres Indiz dafür, dass die Welt aus den Fugen geraten ist. Doch über ihren Bildrand blickt diese Lyrik selten hinaus.

Markus Stegmann, 1962 im schwäbischen Backnang geboren, arbeitet als Museumskurator in Basel. Er schreibt seit etwa 15 Jahren ganz für sich. Es war seine dritte Lesung überhaupt, die ihm gleich den mit 4000 Mark ausgestatteten zweiten Förderpreis eintrug. Im Gegensatz zur allumfassenden Anklage einer Frau an den Krieg, vorgetragen von Thomas Heinold, stellt sich Stegmann seiner Zeitgenossenschaft als Fernsehzuschauer: "kann nicht anders sein als verlogen / kann nicht anders sein als beschämend / im trockenen zimmer tasse tee lese / ich am bildschirm das geschriebene / bin ich unverletzt / bin ich frei von filmen / von panzergeräuschen, einbrechenden türen / frei von morden und geräuschen / [...] draussen seh ich, wie die themen wechseln / die kriege zurücksinken / themen ihre karriere beenden".

Das lyrische Dreiländertreffen mag bei Anhängern der Wiener Schule der konkreten Poesie Enttäuschungen verursacht haben. Gegen Lutz Seilers geschichtsgesättigte Sinnlichkeit der Abraumhalden und Zwecklampen, gegen seine erschöpfende Abrechnung mit der Utopie kam manches alpine Theorem nicht an. "Mein Atlantik heißt Kopf", bekennt Christoph W. Bauers Zyklus "die mobilität des wassers müsste man mieten können". Wenn man so will, liegt Meran wie Böhmen am Meer.Mehr zum Lyrikpreis im Internet unter

www.uschtrin.de/pr-meran.html

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