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Hit-Parade. Mick Jagger mit Ron Wood (l.), Keith Richards und Charlie Watts (r.) am Montagabend in London.

© dapd

Rolling Stones live: Woh-ho-ho-ho-ho-ho!

Schlanke 50: Die Rolling Stones feiern Goldene Hochzeit in der Londoner O2-Arena. Es ist das erste Live-Konzert seit fünf Jahren.

Die Oxford Street trägt schon ihr Adventskostüm. An den Kaufhäusern hängen Glitzerketten, über der Fahrbahn prangt bunter Lichterschmuck und auf der Höhe der Davies Street fliegt sogar Kunstschnee durch die nasse Londoner Luft. Schiebt man sich mit den Shopping-Massen weiter westwärts, gelangt man zu einem grau-weißen Klotzbau an der Ecke Poland Street. Ein Uhrenladen, eine Bank und ein Souvenirgeschäft sind darin untergebracht.

Nichts deutet darauf hin, dass hier, im Keller der Oxford Street 165, am 12. Juli 1962 ein pophistorisches Ereignis stattgefunden hat: das erste Konzert der Rolling Stones. Die Band um den damals 18-jährigen Sänger Mick Jagger spielte im Marquee Club ein etwa 50-minütiges Set mit Blues- und Rock‘n‘Roll-Stücken. Es war der Auftakt zu einer der beeindruckendsten und längsten Karrieren der Rockgeschichte. Doch nicht einmal der Andenkenladen in dem Haus versucht aus dieser Tatsache Kapital zu schlagen: Er hat zahlreiche Beatles-Devotionalien im Sortiment, doch von den Stones gibt es nur einen mickrigen Button und einen Kalender für 2013 – schon jetzt von 15,99 Pfund auf 7,99 Pfund herabgesetzt.

Angemessen gefeiert wird das 50-jähriges Bühnenjubiläum der Londoner Band ein paar Ecken weiter in der Carnaby Street. Hier hängt eine riesige Stones-Zunge über den Köpfen der Passanten, es gibt schwebende Arrangements aus goldenen Schallplatten mit Fotos und Covermotiven der Gruppe sowie einen Laden, der ausschließlich Stones-CDs, -Plakate und -Schlüsselanhänger verkauft. Es herrscht reger Betrieb, einen Tag vor dem ersten der zwei großen Geburtstagskonzerte in der Londoner O2-Arena. Drei weitere Gigs in den USA folgen im Dezember.

Abgesehen von einem kleinen geheimen Warm-up-Konzert in Paris ist es das erste Mal seit fünf Jahren, dass die Rolling Stones live spielen. Doch bevor sie selber die riesige Bühne betreten, die die Form ihres berühmten Lippen-Logos hat, schicken sie rund vier Dutzend schwarz gekleidete Trommler und Percussionisten in den bestuhlten Innenraum. Da zusätzlich mächtiges Gewummer vom Band kommt, verpufft deren Auftritt völlig. Doch das ist umgehend vergessen, als die Stones hereinkommen und sich in den Opener „I Wanna Be Your Man“ werfen, jenen Song, den ihnen Paul McCartney und John Lennon 1963 überließen.

Wie alt sind die nochmal?

Keith Richards geht mit seiner gelben Telecaster in die Knie und führt die Band mit „Get Off Of My Cloud“ und „It‘s All Over Now“ tiefer in die Sechziger. Schwarz-Weiß-Fotos der jungen Stones werden auf die Leinwand projiziert. Die Motive wirken vertraut, sie scheinen derzeit – vor allem in England – omnipräsent zu sein. Ausstellungen, Fotobände, Presseberichte sowie zwei Dokumentationen aus den Anfangstagen der Gruppe begleiten das Jubiläum. Diese Standleitung in die Vergangenheit mischt die jungen und die alten Rolling Stones ständig ineinander. Als seien die Jahrzehnte, die vergangen sind, bedeutungslos (Hier geht es zum Tagesspiegel-Jubiläumsporträt).

Zu dieser Illusion trägt auch die Fitness der Band bei. Alle vier Stones sind nach wie vor sehr schlank und beweglich, vor allem Mick Jagger, dessen Energieleistung an diesem Abend atemberaubend ist. Er hopst über den Laufsteg ins Publikum, tanzt ekstatisch auf seinen dünnen Zappelbeinen, boxt in die Luft und singt dabei so kraftvoll wie eh und je. Dass dieser Mann 69 Jahre alt ist, lassen nur seine tiefen Gesichtsfalten erahnen. Der Verwitterungsgrad des einige Monate jüngeren Keith Richards hat stärker zugenommen. Er färbt sich die dünner werdenden Haare nicht mehr, macht aber mit rotem Stirnband, Silberschmuck und türkisfarbener Lederjacke trotzdem eine gute Figur. Und sein Instrument beherrscht er auch mit krummen Fingern. Ein toller Moment ist sein Solo in „Going Down“, bei dem er mit wenigen Blues-Scale-Tönen hundert Mal mehr sagt als Gast-Gitarrist Jeff Beck mit seinem viel längeren Highspeed-Vibrato-Verzerrer-Exzess.

20.000 Zuschauer - ausverkaufte Arena

Nach einer halben Stunde nehmen die Stones mit „Wild Horses“ zum ersten Mal das Tempo zurück. Es bleibt im Hauptset die einzige Kuschelgelegenheit. Jetzt übernimmt Keith Richards für zwei Stücke das Mikrofon, er lacht und stimmt den Drogensong „Before They Make Me Run“ an, dessen poppiger Vibe ebenso gute Laune macht wie das folgende „Happy“ mit Ron Wood an der Pedal-Steel-Gitarre. Das Zusammenspiel von Wood und Richards fesselt während der gesamten zweieinhalbstündigen Show in der mit 20.000 Zuschauern ausverkauften Arena. Die beiden bauen in großer Eintracht am massiven Sound-Gebäude. Oft knallt Richards das Lead-Riff in die Runde und Wood übernimmt dann die feineren Licks und Fills. So halten sie es auch bei ihren zwei neuen Songs auf dem gerade erschienen Best-of-Album „Grrr!“, die sie in London hintereinander wegspielen. Wobei „Doom And Gloom“ etwas mitreißender rüberkommt als „One More Shot“. In beiden Fällen fliegen die Stones auf Autopilot. Alles wirkt bekannt, mal klingt das „Brown Sugar“-Riff an, mal „Street Fighting Man“.

Das letzte Stones-Album, „A Bigger Bang“, erschien bereits vor sieben Jahren. Ein neues ist offenbar nicht geplant. Aber die Band hat ihre epochale Arbeit ja schon in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens vollbracht. Seither dreht sie quasi eine Ehrenrunde, wie die „New York Times“ anlässlich des Jubiläums schrieb. Dass die einst gefährlichste Rockband der Welt so lange durchgehalten hat, ist eine erstaunliche Leistung. Sie hat Chaoskonzerte, Verhaftungen, Drogenabhängigkeiten, Umbesetzungen und Streits überstanden und ist inzwischen – abgesehen von The Who – die letzte noch aktive große britische Band aus den sechziger und siebziger Jahren. Die Frage, warum die Stones im Alter von 65 bis 71 noch immer im Rockzirkus mitmischen, stellt sich gar nicht mehr. Sie machen weiter, weil sie es können. Problemlos füllen sie auch heute noch Riesenhallen, selbst zu absurd hohen Ticketpreisen.

Eine englische Band mit amerikanischen Wurzeln

Keith Richards hat kürzlich gesagt: „Wir können nicht geschieden werden.“ Und so feiert er mit seinen Lieben nun ausgiebig Goldene Hochzeit. Zur Party in London haben sich die vier Stones, die wie stets in den letzten 20 Jahren von Darryl Jones am Bass begleitet werden, einige Gäste geladen. Unauffällig, fast unterkühlt verläuft der Einsatz von Ex-Bassist Bill Wyman, der bei zwei Songs mitspielt. Und die US-Soulsängerin Mary J Blige zerschreit leider die Hälfte von „Gimme Shelter“. Der einzige überzeugende Gastauftritt ist der von Mick Taylor, 1969 bis 1974 Gitarrist der Stones. Wie er sich mit seiner Gibson Les Paul in den rund zehnminütigen „Midnight Rambler“ kniet, ist phänomenal – ein Höhepunkt des Abends. Dass dieses Blues-Stück derart herausragt, ist kein Zufall bei dieser Jubiläumsshow, bei der die englische Band einige Male sehr deutlich auf ihre Wurzeln im amerikanischen Süden verweist.

Die Hit-Parade mit „Miss You“, „Start Me Up“ und „Sympathy For The Devil“ absolvieren sie mit Routine, aber nicht ohne Herz. Das altersmäßig ziemlich gemischte Publikum singt die „Woh-ho- ho-ho-ho-ho-hos“ und „Hu-Hus“ begeistert mit. „(I Can‘t Get No) Satisfaction“ spielen die Rolling Stones nicht, was für viele sicher eine Enttäuschung ist. Doch auch „Jumpin‘ Jack Flash“ bildet eine tolle Schlussnummer, die noch lange im Kopf nachhallt. Mick Jagger tänzelt nach der Verbeugung noch ein wenig länger als die anderen über die Bühne. Vielleicht geht er jetzt noch eine Runde joggen. Und Keith Richards steckt sich eine Zigarette an.

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