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Befreiungsjubel. Rumänen in Denta feiern am 22. Dezember 1989 das Ende von Ceausescus Tyrannei.

© Joel Robine/AFP

Roman "Der Scheiterhaufen": Träumen unter Hexen

Meister des Unheimlichen: Der Ungar György Dragomán zeigt in seinem Roman „Der Scheiterhaufen“ die chaotische Zeit um den Sturz Ceausescus durch die Augen eines Kindes.

Magie ist das Zauberwort. Ein Begriff, vor dem Philologen gerne zurückschrecken, wenn sie nicht gleich in Panik ausbrechen. Weil er Irrationales und Unerklärliches berührt? Weil es schwer ist, ihm analytisch auf den Grund zu gehen? Ähnlich verhält es sich mit dem Gefühl, das oft als Kriterium diskreditiert wird, wenn es um sogenannte Gewissheiten (oder auch nur Klarheiten) geht. Ein Jean-Jacques Rousseau war da weitsichtiger und räumte dem Gefühl sogar den Vorrang vor der Vernunft ein. Und der Zeichentheoretiker Roland Barthes scheute sich nicht, das Wort „magisch“ zu Papier zu bringen, wenn es um Romane ging, die mehr wollten, als nur Plots zu konstruieren und Realität abzubilden. Manchmal reichen schon wenige Seiten Lektüre für das klare Gefühl, es mit etwas Großem, Magischem zu tun zu haben.

Im Falle György Dragománs und seines jetzt auf Deutsch erscheinenden neuen Romans gesellen sich zu dem fühlbaren Zauber seines schriftstellerischen Könnens eine Reihe magischer Szenen und Motive. „Der Scheiterhaufen“ – im Titel klingen neben politischen Verfolgungen und Bücherverbrennungen auch die von Hexen an – birgt jede Menge Unerklärliches. Dabei verliert sich der Autor keineswegs in postmodernistischen Formspielereien, er zollt vielmehr der erzählten Realität Tribut, insbesondere auf der Handlungsebene, und zwar auf zarte, feinfühlige, mitunter auch harte, schreckliche, in Dragománs lakonischer Sprache immer fesselnde Weise.

Schauplatz Rumänien

Bekannt ist der ungarische Romancier, der 1973 als Angehöriger der ungarischen Minderheit im siebenbürgischen Târgu Mures geboren wurde und heute mit seiner Familie in der Nähe von Budapest lebt, seitdem sein inzwischen in rund dreißig Sprachen übersetzter Roman „Der weiße König“ (2008) auch in Deutschland zum Bestseller wurde. Dragomán ist ein stilbewusster Meister seiner Disziplin. Und das sind, in ihrem jeweiligen Universum, in der ungarischen Gegenwartsliteratur gemessen an der Größe des Landes offenbar mehr Schriftsteller als in anderen Ländern. Neben den vertrauten Namen von Péter Nádas, László Krasznahorkai oder Péter Esterházy sind auch Lászlo Darvasi („Blumenfresser“), Ferenc Barnas („Der Neunte“) oder Szilárd Borbély („Die Mittellosen“) als ihm ebenbürtige Autoren zu nennen.

Wie schon in seinem Roman „Der weiße König“, in dem György Dragomán aus der Perspektive eines Elfjährigen den Terror der kommunistischen Diktatur im Rumänien des Tschernobyl-Jahres 1986 schildert, gibt es auch im „Scheiterhaufen“ eine kindlich-jugendliche Icherzählerin. Wieder ist der Schauplatz Rumänien, allerdings in der chaotischen Zeit nach dem Sturz Nicolae Ceausescus. Emma ist eine dreizehnjährige Vollwaise, die nach dem angeblichen Unfalltod ihrer Eltern im Internat lebt.

Abgründe einer tragischen Familiengeschichte

Eines Tages wird sie von ihrer „verrückten“ Großmutter abgeholt, die sie nicht kennt und die physiognomisch sowie in ihren Verhaltensweisen Züge einer Hexe aufweist – nicht zuletzt versteht sie sich auf Magie. Diese Großmutter verzaubert alkoholisierte Musiker, die ihr und vor allem ihrer verängstigten Enkelin zu nahe rücken. Sie liest in Mehl, Kaffeesatz oder Blut. Dragománs Verfahren ist simpel, aber wirkungsvoll. Denn natürlich behauptet kein erwachsener oder gar allwissender Erzähler, dass es sich hier um eine veritable Hexe handelt. Es ist der Blick des Kindes, das sich bemüht, Gesehenes zu verstehen, und das seine Erlebnisse und Erfahrungen verklärt, zumal, wenn es sich um Unheimliches handelt.

Und das ist für Emma manches. Zuallererst die Großmutter selbst, aber auch die Stadt, in der sie fortan leben muss, ihr neues Zuhause mit einem verbotenen, geheimnisträchtigen Holzschuppen im Garten, die neue Schule, wo sie von Mitschülern gedemütigt wird (ihr Großvater war ein Spitzel der Staatssicherheit, heißt es), das Erwachsenwerden überhaupt, die erste Menstruation, natürlich die erste Liebe. Die Welt erscheint ihr als Traum.

Dass sich in diesen Traum Erinnerungen mischen, an Kindheit und Eltern – willkürliche und unwillkürliche wie bei Marcel Proust –, macht es nicht einfacher. Die Familiengeschichte birgt auch für Emma Geheimnisse. Aber gerade ihre traumhafte Wahrnehmung ist es, die den erzählerischen Zauber ausmacht, die Magie, die der Text auf jeder Seite verströmt.

Alles ist in einen lyrisch-elegischen Schleier gehüllt, Buchstaben verwandeln sich plastisch in Ameisen. Dragomán hält eine Lektion parat, die, Jahre nach der Ausrufung der condition postmoderne nichts Neues beinhaltet, aber in ihrer poetischen Gestaltung verblüfft: Es gibt keine Wahrheit. Mithin auch keine Gewissheit. Dennoch, des Rätsels Lösung kommt der Leser recht nah, seine Neugier bleibt nicht unbefriedigt. Ihm offenbaren sich die Abgründe einer tragischen Familiengeschichte sowie die einer grausamen Zeit voller ungeklärter Schicksale.

György Dragomán: Der Scheiterhaufen. Roman. Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 494 Seiten, 24,95 €.

Tobias Schwartz

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