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Matthias Nawrat

© Gert Eggenberger/dpa

Roman "Die vielen Tode unseres Opa Jurek": Kabale und Opole

Die Geschichte Polens und Europas - in vielen kleinen Geschichten: Matthias Nawrat erzählt in „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“ mit Gespür für den richtigen Satz.

Sterben muss jeder. Ärgerlich aber, wenn es gleich mehrmals passiert. „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“ verrät schon im Titel, was Matthias Nawrat seinem Helden zumutet. Den erwischt es bereits als Jugendlichen, weil er im besetzten Warschau, seiner Heimatstadt, zwei Wehrmachtssoldaten über den Weg läuft – nach der Sperrstunde. Mit deutschem Gruß versucht er, die Nazis zu täuschen. Die blicken ihm misstrauisch nach, „ihm schlug das Herz bis in den Kopf hinauf, und eigentlich sei er, so erzählte er, bereits tot gewesen, zum ersten Mal in seinem Leben, und das sei ein sehr merkwürdiges Gefühl gewesen.“

Dergestalt sind die Tode, die Opa Jurek erleidet. Die meisten überlebt er knapp. Das Buch setzt mit seinem letzten, tatsächlichen Tod ein, geschildert von der Enkelgeneration, die als erzählendes „Wir“ aus Bamberg anreist. Am Sterbebett muss dieses „Wir“ versprechen, „dass wir ab und zu an ihn denken, dass wir ihn und sein Leben in Erinnerung behalten, dass wir ja nichts vergessen“. Ein Versprechen, dem die Enkel auf gut 400 Seiten nachkommen. Nicht nur das Leben des Großvaters erzählen sie, auch das des Vaters, unterbrochen von Schwenks in die 90er-Jahre-Gegenwart des oberschlesischen Opole. Dorthin zieht Opa Jurek nach dem Krieg, dort wächst der Vater auf, will so schnell wie möglich fort und kehrt nicht einmal zur Beerdigung des Schwiegervaters zurück.

Eine verzwickte Familiengeschichte bahnt sich an. Doch Nawrat, selbst als Zehnjähriger von Opole nach Bamberg übersiedelt, will mehr als nur einen Stammbaum porträtieren. Das Panorama „der Geschichte Polens und Europas im 20. Jahrhundert“, wie der Klappentext verspricht, soll gleichfalls ausgeleuchtet sein. Also das Schicksal eines Landes, das kaum den Faschismus vertrieben hat, als sich auch schon Kommunismus und Kapitalismus miteinander anlegen. Da sind 400 Seiten auf einmal doch nicht mehr viel Raum.

Beklemmende Groteske

Und tatsächlich verhebt sich Nawrat. Erst recht, indem er die Historie durch eine poetisch geschliffene Brille betrachtet. Opa Jurek schönt die eigene Biografie und schont das Gemüt der Nachfolgegeneration, indem er Gräuel verharmlost. Einen seiner Beinahe-Tode stirbt er in Auschwitz. Von den Aufsehern spricht er indes als „diese höher gestellten Mitarbeiter“: Sie hatten „stets einen besserwisserischen Spruch auf den Lippen und wussten diesen nicht selten auch mit einer gewissen körperlichen Präsenz und sogar mit Hilfe stockartiger Utensilien aller Art zu untermalen, was das Errichten von nagelneuen Reihenhäuschen zwar, oberflächlich betrachtet, beschleunigte, der Arbeitsmoral eines jeden niedriger gestellten Beteiligten aber unter dem Strich nicht gerade zuträglich war.“

An Stellen wie dieser gerät die Verfremdung zur beklemmenden Groteske. Doch wird sie zum Selbstzweck, sobald die Fallhöhe fehlt – etwa wenn in gleicher Manier Opa Jureks Versuche beschrieben werden, ein Lebensmittelgeschäft aufzubauen. Dann wirkt der Duktus angestrengt drollig, schlimmstenfalls kalkuliert. Noch dazu geht der Text seinem eigenen Plauderton auf den Leim und zerfasert in Anekdoten. Der „vielen Tode“ sind letztlich gar nicht so viele, auch „der große Feind unseres Opas, den wir bis heute unter dem Namen T. kennen“ taucht nur zweimal kurz auf – und die Figuren werden ob des (nicht immer schlüssig austarierten) Narrationsverfahrens nie fassbar. Umso ärgerlicher, weil Nawrat wunderbar schreibt. Im Kriegs- und Nachkriegspolen finden sich Szenen von feiner Komik, beseelt durch das schwer zu benennende Gespür für den richtigen Satz zur richtigen Zeit. Nur runden will es sich nicht – zu diffus, zu langatmig, zu festgefahren ist das Ganze in seiner Erzählidee.

Matthias Nawrat: Die vielen Tode unseres Opas Jurek. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2015. 416 Seiten, 22,95 €.

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