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Mythomane. Der Schriftsteller Jan Koneffke, 1960 in Darmstadt geboren, lebt in Wien.

© Reinhard Öhner,Wien/Galiani

Roman "Ein Sonntagskind" von Jan Koneffke: Aus dem Zwielicht zur Sonne

Mit 17 im Zweiten Weltkrieg: Jan Koneffke erzählt in "Ein Sonntagskind" die Geschichte seines Vaters und verbindet darin Kriegs- und Nachkriegszeit.

Gerade erst erzählte Ralf Rothmann in seinem Roman „Im Frühling sterben“ die Geschichte seines Vaters, der noch zum Ende des Zweiten Weltkriegs als 17-Jähriger in den Kampf zog, zwar nur einen einzigen Schuss abgeben musste, den aber auf einen Freund. Der Sohn versuchte sich an der poetisch-sinnlichen Evokation eines Grauens, für das der Vater niemals Worte fand. Auch Jan Koneffkes Roman „Ein Sonntagskind“ handelt vom Kriegserlebnis des damals 17-jährigen Vaters. Doch hier findet der Sohn im Nachlass Briefe, die in einer abgebrüht landserhaften Sprache ruhmredig von gräulichen Taten sprechen. Erschüttert geht er daran, ein ihm unbekanntes Leben zu rekonstruieren.

Koneffkes Roman erscheint zunächst spröde, und er bleibt distanziert, obwohl man bald ins „Und dann?“ hineingezogen wird. Schon weil es sich bei Konrad Kannmacher, dem Protagonisten, der in die apokalyptische Restlaufzeit des Krieges gerät, nicht um einen Verstummten, sondern einen sprachgewandten, reflektierenden Kopf handelt, gehen die imaginierten Situationen der Vergangenheit immer wieder mit Erklärungen, Mutmaßungen und Deutungen einher

Kannmacher, der Empfindsame, Ängstliche, Grüblerische und Träumerische, verfällt in einen Allmachtsrausch kalten Mordens. Er wird Teil eines Todeskommandos, das metzelt und meuchelt. Zwischen Feigheit und Draufgängertum schwankend, legt er sich erst ein fremdes Eisernes Kreuz erster Klasse zu, um schließlich tatsächlich eines zu erhalten. Sein Körper rebelliert mit Darmkrämpfen und Durchfall. Das wird auch so bleiben, wenn er sich in entscheidenden Situationen wieder und wieder als Feigling und Lavierer erfährt. Schämte sich der Adoleszent seiner Schwächen, so schämte er sich danach ein Leben lang der mörderischen Rohheit, mit der er einst die Schwächen kompensierte. Sein achtbares, gesellschaftlich engagiertes Leben ist fortan Kompensation der damaligen Kompensation.

Kannmacher ist eine Figur wie Walter Jens oder Günter Grass und viele andere, denen ihre jugendliche Verführbarkeit im Fortgang der eigenen wie gesellschaftlichen Entwicklung Impuls zum sozialen bis sozialistischen Engagement wurde, eines nach innen gerichteten Läuterungs- und nach außen gerichteten Besserungswillens, der sie im Maß ihrer öffentlichen Wirkung und Repräsentanz einkapselte, bis sie sich am Ende daran nicht einmal mehr erinnern konnten.

Jan Koneffke macht kein Hehl daraus, dass er die Geschichte seines Vaters Gernot vor Augen hat, eines in den 60er und 70er Jahren einflussreichen, marxistischen Bildungstheoretikers. Der war ein Adlatus des hochgeschätzten Pädagogen Hans-Joachim Heydorn und bewegte sich im Umkreis der sogenannten Kritischen Bildungstheorie, der Antiatombewegung, der Vorgeschichte von DKP und Alternativbewegung. So führt der Roman noch einmal tief in die Aufbruchsjahre um 1968 und danach.

Konrad, inzwischen Philosophieprofessor, versucht sich an einer Art Lebensbeichte gegenüber einer Kriegsgeliebten, die in der DDR lebt. Das verschafft ihm ein neues Problem: Ein Agent des MfS erpresst ihn zur Spitzelei. Er laviert. Ähnlich sein Umgang mit einem RAF-Pärchen, dem er aus Feigheit und Hilflosigkeit seine Wohnung überlässt. Auch hier windet er sich so eben noch heraus.

Cover des Romans "Ein Sonntagskind"
Cover des Romans "Ein Sonntagskind"

© Promo

Ein Sonntagskind? Der Kantianer, der Ausleger des Sittengesetzes, die moralische Instanz zeigt auch privat immer wieder reuig den besten Willen, lässt aber in entscheidenden Momenten die Freunde im Stich und wird seiner Begehrlichkeiten nicht Herr. Im Krieg ging es ihm ums „Ficken“ und „Hacken“. Nun ist er liebevoller, aber ebenso fixiert. Die lustvoll begonnenen Affären werden zur Belastung, Bedrohung oder gar Katastrophe.

Ob die erste Ehefrau des Noch-Studenten, die ländliche Lolita des jungen Volksschullehrers, die exaltierte Ruhrprinzessin mit ihrem eigenen Verhältnis zu Wahrheit und Wirklichkeit, die ständig in seinen Sachen schnüffelt und dem aufstrebenden Philosophen zwei Söhne gebiert, oder schließlich Rose, die Ausflucht des umworbenen Professors, die sich als Psychotikerin erweist und in den Tod fährt. Sie hat dem „Buchhalter seiner Erinnerungen“ überdies fast alle Papiere verbrannt. Im Tagebuch sinniert er, wie er als „Vernunftprediger“ einer „klaren Verstandeskraft“ mit „Frauen am geistigen Abgrund verbunden“ war.

Doch ist dies, genau besehen, ein Eintrag des Sohnes, denn der rekonstruiert ja imaginativ. Mehr noch, am Ende schreibt er dem Vater ein ebenfalls verloren gegangenes Heft mit Geschichten zu, die dieser als Jugendlicher verfasst haben soll, und die in den Gang des Biografischen eingeschoben werden. Ob katastrophisch oder grandios, immer sind es Größenfantasmen und Selbsterhöhungen – mit dem Antrieb, von 10 000 Jungfrauen begehrt zu werden. Das hat sehr viel Komisches, doch auch Bitteres.

Nun ist Fabulieren geradezu ein Markenzeichen von Koneffkes Romanen. In „Die sieben Leben des Felix Kannmacher“ war es 2011 Balkanisch-Orientalisches, passend zur rumänischen Zwischenkriegszeit, in der das Ganze spielte. Sein Debüt von 2008, „Eine nie vergessene Geschichte“, gestaltete die Geschichte seiner Familie, vor allem der Großeltern von pommerscher Vor- und Kriegszeit über Flucht und Vertreibung bis ins Schleswig-Holstein der Nachkriegszeit. Koneffke hatte Anekdoten und Sagen eingebaut und gab sich dem Ton östlicher Heimaterzählungen zwischen Grass und Lenz hin.

Gehörte das Fabulieren im ersten Roman zur Familienfolklore, war es im zweiten ein Überlebensmittel. Hier nun zeigt es die Not eines Adoleszenten, dem Verdacht des Feigen in Zeiten zu entkommen, die Windhunde aus Kruppstahl propagierten. Es zeigt aber auch die Not des Erzählers, der Jugend des Vaters mehr zu geben als in jenem stumpf-ruhmredigen Kriegsbrief überliefert. Kannmacher fabuliert vor allem im Deutschmythischen zwischen Edelmenschentum à la Karl May – der auch für Rothmanns Vater eine wichtige Rolle spielt – und technischer Weltherrschaft à la Hans Dominik. Selbst die Teufelssage des ersten Romans bekommt nun eine faustische Wendung.

Überhaupt ist „Ein Sonntagskind“ die Revision von „Eine nie vergessene Geschichte“. Konrad hatte dort gerade eine Dreiviertelseite beansprucht, kein Wort von der Kriegsepisode. Nun wird von ihr aus alles noch einmal neu erzählt – vom antinazistischen Großvater bis zur Nazi-Tante Alma. Aber was zuvor als schrullig und liebenswert daherkam, erscheint nun in einem kalten Zwielicht. Entschieden rückt die Verbindung von Kriegs- und Nachkriegszeit ins Zentrum.

Man könnte das als Parabel auf die bundesrepublikanische Geschichte lesen, aber das würde die Komplexität des Romans verfehlen, in den auch die Verstörungen der Allerjüngstzeit eingegangen sind: Vertrauensverlust in die sozialen Ordnungsmächte, Zerfällung vermeintlicher gesellschaftlicher Gewissheiten, Prämierung von Gewalt und Terror – als mehr denn nur skeptischer Blick auf die Humanisierbarkeit des Menschen.

Diese kritische Überprüfung der condition humaine ist auch eine der condition artistique: Aus dem nicht mehr (oder nie) Vorhandenen ein Leben in Gesellschaft und Geschichte (re)konstruieren zu müssen. Prüfstein ist der Umgang mit dem Vater. Der wird nicht wie üblich entlarvt oder exorziert, erhält aber auch keine Absolution. Eher ist es eine Vaterrettung – in die Verstrickungen menschlicher Unvollkommenheit und Fehlbarkeit. Statt eines Imperativs ein Imperfekt. Keine Apotheose des Wer-ewig-strebend-sich-Bemüht, sondern die versöhnliche Aufnahme ins Asyl der Möglichkeitswelten zwischen Hellsicht und Wunschtraum.

Jan Koneffke: Ein Sonntagskind. Roman. Galiani, Berlin 2015. 584 Seiten, 24,99 €.

Erhard Schütz

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