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Das Eis wird blutgetränkt. Robbenjäger in Kanada.

© dpa

Roman "Ins Westeis" von Tor Even Svanes: Das Blut der Robbenjungen

In seinem dritten Buch erzählt der Norweger Tor Even Svanes mit dokumentarischer Strenge von der Robbenjagd in Grönland.

Die Robbenjagd im grönländischen Eis ist bis heute ein Skandal – und ein einträgliches Geschäft. Zwar werden Robbenjäger „schon lange nicht mehr als Helden gefeiert“, wie der Kapitän des Robbenfangschiffes, das Schauplatz dieser mitreißenden und verstörenden Erzählung ist, zugeben muss. Aber auf was für eine Horrorfahrt die junge Tierärztin Mari von der norwegischen Fischereiaufsicht geschickt wird – das ahnt sie nicht.

Der norwegische Autor Tor Even Svanes ist mit diesem heiklen Thema aufgewachsen, und er erzählt gleichsam aus dem Inneren einer Tragödie – das macht seine Geschichte besonders glaubwürdig. Mari hat gerade ihr Studium abgeschlossen, sie ist selbstbewusst und alles andere als naiv. Zu Beginn ihrer ersten Fahrt ins arktische Eis ist sie begeistert und neugierig, sie bemüht sich, nicht zu eifrig zu wirken und vom ersten Moment an einen guten Kontakt zu den Männern an Bord zu bekommen. Dass sie die einzige Frau sein wird, darüber macht sie sich keine Sorgen. Denn ihr Auftrag scheint ihr klar und eindeutig zu sein: Sie hat dafür zu sorgen, dass die Tiere auf der Jagd nicht unnötig leiden und die Schützen sorgfältig arbeiten. Für den Einsatz der Hakapiks, eiserner Pickel, mit denen die Jungtiere erschlagen werden und der hakenbewehrten Teleskopstangen, mit denen die erlegten Tiere herangeholt werden, gibt es strenge Regeln.

Starke Naturschilderungen

Schon der starken Naturschilderungen wegen ist dieses Buch lesenswert, denn das Eis lebt, es atmet und seufzt unter dem metallischen Licht, das Tag und Nacht gleichmacht, und Mari vertieft sich – als Einzige an Bord – in die konvexen Flugmuster der Eissturmvögel und Seeadler. Zumindest auf der Hinfahrt, bevor das Grönlandeis erreicht ist, scheint an Bord alles in Ordnung – Mari will es immerhin so sehen. Die Schikanen und sexistischen Bemerkungen blendet sie einfach aus. Doch plötzlich gleitet das Schiff wie durch einen Vorhang: „Es gibt hier etwas, das zittert, das die Luft sättigt, und dieser Vorspuk wird von der Kälte verstärkt, die ihnen entgegenströmt. Außerdem ändert sich das Licht. Sie haben die Bleischichten verlassen, von denen sie auf dem offenen Meer umgeben waren. Die Sonne steht hoch am Himmel. Sieht aus wie ein einsames gelbbraunes Auge, bedeckt von Dunst, bedeckt von Butterbrotpapier.“ Die Jagd beginnt.

Tor Even Svanes erzählt in kurzen Abschnitten, die sich wie Puzzleteile zu einem erschütternden Ganzen fügen, wobei die anfänglichen Leerstellen die mit knappen Strichen gezeichneten Szenen und Figuren noch schärfer hervortreten lassen. Die Sprünge und Brüche der Geschichte folgen den zersplitterten Erinnerungen der Hauptfigur, die unter Schock steht und, nach den Aussagen der Krisentherapeutin, kein Gefühl mehr für Chronologie hat. Aber diese meisterhaft strenge Erzählung folgt ihrer eigenen, unerbittlichen Chronologie.

Wie die an Bord dominierende rote Farbe sich in Maris Augen immer mehr mit dem Blut der Robbenjungen vermischt, die abgestoßenen Türen ihr wie angekohlte Gefängnistüren nach einem Aufstand vorkommen und sie aufhört zu duschen, weil sie es nicht mehr erträgt sich auszuziehen: all das folgt den Gesetzen des Traumas.

Anklage menschlicher Verrohung und Grausamkeit

Auch als hochemotionale Studie über Wahrnehmung lässt sich diese in ruhigem Rhythmus schwingende Erzählung lesen. Denn die junge Tierärztin reflektiert genau, was mit ihr passiert, wie das gleißende Eis ihre Beobachtungen verdreht und ausdünnt. Der jetzt offene Krieg zwischen ihr und den Schützen, die die jungen Seehunde „schießgeil“ mit halbautomatischen Waffen zerfetzen und noch lebende Tiere an die Haken der Deckwinde hängen, zermürbt sie. Umso bewundernswerter der Mut, mit dem sie, zitternd vor Angst, den Schützen eine Anzeige wegen Tierquälerei androht. Sie streckt ihnen ihr Notizheft entgegen wie eine Waffe, während ihr jede Nacht eine tonlose Stimme vor ihrer Kajütentür Vergewaltigungen androht.

„Ins Westeis“ ist das dritte Buch des 1978 auf der Insel Tjome geborenen Autors, der heute in Oslo lebt und an der Universität Philosophie und Geschichte lehrt. Die norwegische Kritik reagierte begeistert und sprach zu Recht von einer „fast makellosen Erzählung“. Auch um Vernunft und Gerechtigkeit geht es dem Autor, um eine Anklage menschlicher Verrohung und Grausamkeit. In einer der schönsten Szenen beobachtet Mari, nach dem öffentlichen Skandal, den ihr Bericht ausgelöst hat, nach Polizeiverhören und Therapiesitzungen, in Nuuk einen einzelnen Robbenjäger. Er hält den Kopf der geschossenen Sattelrobbe „eine Armlänge von sich entfernt. Respektvoll, denkt sie. Wie Prinz Hamlet mit dem Schädel seines geliebten Yorick.“ Womit Mari nicht nur die Robbenjagd würdigt, sondern auch ihren Humor wiedergefunden hat.

Tor Even Svanes: Ins Westeis. Roman. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann. Osburg Verlag, Hamburg 2016. 200 Seiten, 18 €.

Nicole Henneberg

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