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Kultur: Roman Polanski: Die große Nachtmusik

Der Himmel über Warschau macht, was Roman Polanski grundsätzlich immer verlangt. Er zeigt historisches Bewusstsein.

Der Himmel über Warschau macht, was Roman Polanski grundsätzlich immer verlangt. Er zeigt historisches Bewusstsein. Und Präzision! Warum sollte ein früher Maihimmel nicht einen späten Septemberhimmel spielen können? Er ist tiefblau. Es ist jenes Blau, in das man eintauchen möchte, um ganz weit hinten garantiert auf seine Ursache zu stoßen. Irgendwo muß diese sagenhafte Farbe doch herkommen. Es ist genau jenes Blau, das Polanski sah, als er an der Hand seines Vaters den Einmarsch der deutschen Truppen in Warschau erlebte. Hurensöhne, sagte der Vater. Polanski sagte nichts. Nicht damals. Er ist ein sehr guter Wetterregisseur geworden. Gerade vor ein paar Tagen hat er vormittags den Winter 1944 gedreht und nachmittags den Sommer. Pünktlich am Morgen schneite es, mittags, zum Sommerbeginn, war der Schnee weg. Roman Polanski ist wieder zu Hause. Nach vierzig Jahren mit Kamera zurück in Polen. Vielleicht liegt es daran.

Wladyslaw Szpilman, der berühmte polnische Pianist, hatte das Blau damals auch gesehen. Am 23. September 1939 spielte er Chopins cis-Moll Nocturne im Warschauer Radio. Es war die allerletzte Rundfunk-Sendung. Dann kamen die Deutschen.

Polanski verfilmt Szpilman. Den Krieg, einen Pianisten, das Warschauer Ghetto. Und zuletzt einen deutschen Offizier, der den Juden rettete.

Bis eben stand das Warschauer Ghetto noch in Babelsberg. Man konnte gleich die Sonnenallee-Kulisse dafür nehmen. Häuser mit Mauer drumrum. Absolut ghettomäßig. Babelsberg produziert auch wieder mit. Aber ganz Warschau als Kulisse? Unmöglich, dachte Polanski und wollte das Original.

Was ist denn hier passiert?, fragt ein alter Mann vor der rot-weißen Absperrung am Kopernikus-Platz. Warschaus schönste Straße, die Ulica Nowy Swiat, ist abgeriegelt. Die Deutschen kommen, erklärt beiläufig ein junger Mann mit Nike-Mütze und trinkt Cola. Der Alte blickt ihn tadelnd an. So sind sie, die Jungen. Mit ihren achtlosen Späßen. Dann sieht er den Pferdekadaver am Straßenrand, den Kopf schon auf dem Bürgersteig, die gestrandeten Autos, die Reklamen seiner Jugend an den Straßenwänden und mit weißen Papierstreifen verklebte Fenster. Der Mann zuckt zusammen.

Und was ist das? An der Akademie der Wissenschaften fehlt eine Ecke. Eine riesengroße Ecke. Artillerieschaden. Nein, finden jetzt auch wir, das geht zu weit. Die Wehrmacht ist noch nicht zu sehen. Sie wartet weiter hinten. Eine Polin, die rote Jacke sehr unmilitärisch um die Hüften gebunden, geht von Soldat zu Soldat und ordnet mit strenger Hand deutsche Uniformkragen. Die Wehrmacht schaut soldatisch-indifferent an ihr vorbei. Oder auch nur jungenhaft-verlegen. Uwaga! Die Polin klingt sehr streng und außerdem ungemein polnisch, denn diese Wehrmacht versteht nur polnisch. Es sind Rekruten aus der Warschau nächstgelegenen Kaserne. Polanskis Assistent, Vollbart und rotes Kopftuch mit weißen Punkten drauf, hält ungeduldig die Klappe "Scene 5/18 Take 5". Der Lkw der "Euro Trans Film" will trotzdem noch kurz an einem berittenen Wehrmachtsoffizier vorbei.

Aber wo ist nun Polanski? Ein kleiner Mann in hellgrüner Jacke und Jeans steigt auf einen Holzbock, um auch mal durch die Kamera zu gucken. Kein Zweifel, das ist der junge Mann aus dem Karpaten-Schlitten neben dem Professor von der Universität Königsberg auf Vampir-Expedition. Nur über dreißig Jahre später und irgendwie noch kleiner als im Film. Genau der Typ, den man Kaffee holen schickt. Vielleicht blieb Roman Polanski gar nichts anderes übrig als Roman Polanski zu werden. Damit keiner auf die Idee kommt, ihn Kaffee holen zu lassen.

Die Kamera wird ein wenig verrückt. Dann verschwindet der Holzbock, und der Kameramann tritt wieder davor. Er ist viel größer. Denn das sagt sich so leicht: Die deutsche Wehrmacht marschiert in Warschau ein. Entscheidend aber ist doch, in welchem Winkel sie das tut. Wie die Sonne auf die Stahlhelme trifft. Und wie die doppelt geknickte Straßenlaterne dabei ins Bild kommt. Und vor allem die fehlende Ecke der Akademie der Wissenschaften.

Eine Frage der Gravitation

Klappe 5/18, die fünfte. Das Heer marschiert. Auf den Bürgersteigen beginnen auch Männer und Frauen mit Kindern zu laufen. Gar nicht hastend, nur zielstrebig. Sind die Abstände zwischen den Passanten nicht etwas zu gleichmäßig? Alle Männer tragen Hüte. Die Kinder fassen ihre Eltern an. Unwillkürlich muß man an Szpilmans Bemerkung denken, Warschau sei eine ungemein elegante Stadt gewesen. Aber die Soldaten in der Mitte und die Passanten am Rand scheinen, obwohl durch dieselbe Straße, so doch durch verschiedene Welten zu laufen. Als gehörten sie verschiedenen Sonnensystemen an. Kopernikus, auch ein Spezialist für Gravitationsfragen, das Universum mit sämtlichen Umlaufbahnen in der Hand, schaut so reglos wie Polanski auf die anrückende Armee. Beide sehen die Szenerie zum zweiten Mal. Über sechzig Jahre liegen dazwischen. Die Stiefel knallen auf das Pflaster. Die Sonnenblitze auf den Stahlhelmen scheinen zufrieden stellend.

Auf Polanskis T-Shirt steht ein Satz auf Französisch. "Nichts Großes entsteht auf dieser Welt ohne Leidenschaft. Hegel", übersetzen wir. Hat Hegel also auch schon an Polanskis "Tanz der Vampire" gedacht? Oder an "Repulsion", "Chinatown", "Messer im Wasser"? "Messer im Wasser" war Polanskis letzter Film in Polen. Die Wehrmacht marschiert zurück. Alles auf Anfang.

Ein alter Mann in blauem Anzug, Typus Würdenträger, steht mitten zwischen den zerschossenen Autos und blickt auf die unermüdlich anrückende Armee mit unbeirrbarem Wohlgefallen. Das Pferd eines Generals wiehert jedesmal an derselben Stelle. Irgendwie scheint der Mann der geheime Kraft- und Mittelpunkt des Sets zu sein. Es ist Gene Gutowski. Er hatte damals, 1962, "Messer im Wasser" gesehen. Gutowski holte Polanski nach Amerika. Mit ihm hat er "Repulsion" und "Tanz der Vampire" gedreht. Mit ihm las er Wladyslaw Szpilmans Warschauer Erinnerungen, und beide wussten sofort: Das machen wir!

Gutowsky war auch im Warschauer Ghetto. Aber vor dem Aufstand sei er dann doch gegangen, sagt er, als ob man in einem Ghetto nichts Selbstverständlicheres machen könne, als eben mal abzureisen. Er sei nicht so für Aufstände, fügt Gutowsky noch an und schaut zufrieden auf den inzwischen fünften Versuch der deutschen Wehrmacht, in Warschau einzumarschieren. Filme drehen ist eben auch eine Art Wehrkraftzersetzung. Vielleicht hätte man das gleich beim ersten Mal machen sollen, 1939.

Die Lakonie von Szpilmans Erinnerungen habe er besonders gemocht, sagt Polanski den Journalisten. Das Buch ist in Polen ein Bestseller. Neben ihm sitzt der junge Adrien Brody, Polanskis Wladyslaw Szpilman. Er sieht dem richtigen Szpilman wirklich ähnlich. Er blickt seinen Regisseur bewundernd an, wie gut der Polnisch spricht.

Gegen 14 Uhr ist Polanskis Wehrmacht erfolgreich in Warschau einmarschiert. Morgen will man zurück auf die andere Weichselseite, da, wo er zwei komplette Straßen zum Ghetto machte. Er darf das, er ist der Held hier. Am späten Nachmittag laufen die Warschauer wieder an Kopernikus vorbei, achtlos über umherliegende Frontberichtsflugblätter. Ein paar Punks begutachten die Zigarrenauslagen von vor sechzig Jahren. Zwei Männer überkleben die alten Filmplakate mit der knallbunten Ankündigung eines Warschauer Frühlingsfestes. Auch das "Mobilizacje" verschwindet darunter. Die riesige fehlende Ecke an der Akademie der Wissenschaften fehlt gar nicht. Sie war vielmehr hinzugekommen. Bauarbeiter tragen sie leichten Schrittes weg.

Nach dem Krieg eröffnete Szpilman den Warschauer Rundfunk mit demselben Stück von Chopin, mit dem er vor dem Krieg aufgehört hatte. Hitler, eine Unterbrechung im Nocturne in cis-Moll.

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