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Ror Wolf zum 80. Geburtstag: Der Universalkünstler

"Ich bin ein melancholischer Choleriker": Ein Gespräch mit dem Dichter Ror Wolf über seine Erziehung durchs Radio, den Sinn für das Komische und die Liebe zum Jazz.

Herr Wolf, im Rückblick hat man oft den Eindruck, in den 50er und 60er Jahren habe es in der Bundesrepublik ein ungleich intensiveres literarisches Leben gegeben. Wie haben Sie die damalige Szene erlebt?
Ich habe sie zunächst überhaupt nicht erlebt. Als ich aus der DDR wegging, 1953, kam ich in Auffanglager, das waren ehemalige KZs oder Gefangenenlager, die waren nahezu unverändert. Ich wollte das große Abenteuer im Westen erleben, meine Möglichkeiten ausprobieren, die schon ein bisschen mit Schreiben zu tun hatten. Aber wie? Ich musste Geld verdienen. In Stuttgart gab es einen Buchclub, und ich dachte, da werd’ ich Vertreter. Ich hab mir das Vertreterleben amüsant vorgestellt, merkte aber, dass ich überhaupt kein Talent habe. Ich habe es acht Tage versucht und nicht einen einzigen Abschluss gemacht. Dann bin ich in den Straßenbau gegangen und schließlich in eine Großdruckerei als Hilfsarbeiter; am Ende war ich noch drei Monate in einer Werbefirma.

Dann haben Sie in Frankfurt Literaturwissenschaft, Soziologie und Philosophie studiert. Was zog Sie nach Frankfurt?

Ich hab mich in Frankfurt immatrikuliert, weil ich Jazzfan war, und Frankfurt war die Hauptstadt des Jazz, da wollte ich hin. Ich kannte keinen Professor da; ich wusste nicht, wer Adorno ist, wer Höllerer ist. Das war ein Glücksfall: Ich bin zu Adorno und zu Höllerer gekommen. Ich hab dann in einem verdreckten und mit Gerümpel vollgestopften Untermietezimmer gewohnt …

… mit Studentenjobs finanziert?

Ja, mit Studentenjobs finanziert. Dann hab’ ich endlich genug gehabt von dieser Drecksarbeit und mir gesagt, jetzt muss ich mir etwas suchen, das vielleicht weniger Stundenlohn einbringt, aber auch bei Regen angenehm und geheizt ist. Das war im Winter ’54 auf ’55. Und dann bin ich in eine Marktforschungsfirma eingetreten und hab’ dort einfache Büroarbeiten gemacht. Halbtags studiert, halbtags gearbeitet – und zwischendrin geschrieben.

Wie waren Theodor W. Adorno und Walter Höllerer als Lehrer?

Adorno war ein wundervoller Lehrer; ich habe ihm viel zu verdanken. Ich bin ihm auch persönlich langsam nähergekommen. Das war ein Glücksfall – und Höllerer ebenfalls. Er hat mich in die „Akzente“ gebracht; über ihn habe ich moderne Autoren kennengelernt, die ich nicht kennen konnte, weil sie in der DDR nicht verlegt wurden.

Für viele Autoren Ihrer Generation spielte das Radio eine große Rolle – auch in ökonomischer Hinsicht. Wie ist Ihre Beziehung zu diesem Medium?

Wenn man in den 40er Jahren in der DDR lebte und Jazzfan war und interessiert an zeitgenössischer Literatur, Theater, Film war, dann spielte das Radio eine ungeheure Rolle. Nur über das Radio war Kontakt herzustellen mit diesen Dingen.

Sie hatten also schon als Hörer ein intensives Verhältnis zum Radio?

Ein außerordentlich intensives Verhältnis. Mit Hörspielen habe ich ja erst wesentlich später angefangen. Aber ich wusste genau, wie ich sie machen wollte. Es waren ja nicht die konventionellen Hörspiele, die aus einfachen Dialogen mit ein paar Geräuschen bestanden. Das waren gebaute und ausgebaute neue Hörspiele, auch Originalton-Collagen.

Anfang der 60er Jahre waren Sie auch eine Zeit lang Radio-Redakteur …

Als Redakteur habe ich die Literatur betreut, Literatur im Hessischen Rundfunk. Ich hatte eine Sendung, die hieß „Studio für neue Literatur“. Da hab’ ich das, was ich für neue Literatur hielt, einmal im Monat in die Öffentlichkeit gebracht. Und das eigentlich immer unter den misstrauischen Ohren meiner Vorgesetzten, die mit dieser Literatur wenig anfangen konnten. Ich hab’ zum ersten Mal überhaupt Thomas Bernhard gebracht, zum ersten Mal Franz Mon, Peter Weiss …

Sie erwähnten schon Ihre Neigung zum Jazz. Was ist für Sie das Besondere daran?

Das Besondere ist, dass ich ihn in der DDR kennengelernt habe, wo er nicht geradezu verboten, aber unerwünscht war. Eine Sache, die man gern hat, aber nicht leicht erreicht, erhöht ja ihre Wirkung. Mich interessieren auch Barockmusik und zeitgenössische E-Musik. Ich schreibe immer unter dem Einfluss von Musik; im Hintergrund läuft immer Musik. Das ist möglicherweise auch, ohne es verkleinern zu wollen, ein Schallschutz vor den vorbeidonnernden Lastkraftwagen vor meinem Fenster.

Sie haben in Ihrer Jugend selbst musiziert.

Wir waren in diesem kleinen Ort, in dem ich aufwuchs, Saalfeld, so sechs, sieben Mann. Alle mochten wir Jazz; wir spielten auch ein bisschen, versuchten zu improvisieren – primitiv, aber das macht ja nichts. Ich habe bemerkt, dass es nicht auf die Vielzahl der Leute ankommt, die etwas schätzen, sondern darauf, wie stark das Interesse, die Neigung ist. Deswegen hat es mich nie irritiert, wenn meine Bücher nur 10 000 Mal verkauft worden sind. Diese Bücher müssen haltbar bleiben, weiterwirken, das ist das Wichtige.

In jüngster Zeit – das liegt sicher auch an der Neuen Frankfurter Schule – wird die literarische Komik verstärkt beachtet. Wie ist Ihr Verhältnis zum Komischen?

Ich glaube schon, dass ich das Komische schätze. Einer meiner Lieblingslyriker war Morgenstern … Also: Neigung dazu besteht. Aber ich bin kein Kabarettist, dazu fehlen mir sämtliche Voraussetzungen. Vielleicht interessiert es Sie, dass ich, als ich mir als 25-Jähriger vorgenommen hatte, ganz vernünftig zu promovieren und meinem Doktorvater das Thema „Humor bei Kafka“ vorgeschlagen habe, worauf er, ein sehr sehr netter Professor, Kurt May, leider lange schon gestorben, mich ganz verdutzt anschaute und sagte: „Finden Sie Kafka komisch?“ Ich fand Kafka komisch; ich fand bei Kafka enorm komisches Potenzial. Das war noch nicht allgemein bekannt damals – so um 1957. Heute weiß man sogar, dass Kafka sehr gerne komische Texte las …

… und über eigene lachte …

… und wirklich sehr lachte. Aber damals galt er eben als ganz düsterer, verbiesterter Autor.

In Ihrem Werk lassen sich vielfach zwei Ebenen unterscheiden: einerseits das Komische, Groteske, Überraschende – andererseits aber auch etwas Schwermütiges …

… Melancholisches, unbedingt. Und Cholerisches. Ich bin ein melancholischer Choleriker. Das ist eine Eigenart von mir: Ich nehme meine Arbeit sehr ernst. Wenn ich arbeite, bin ich immer an der Grenze zur Explosion. Dann darf mich niemand stören, das geht einfach nicht. Die Menschen in meiner näheren Umgebung haben es nicht immer leicht.

Gerade in Ihren neueren Texten scheint mitunter verstärkt Autobiografisches, ja Bekenntnishaftes ins Spiel zu kommen. Ich denke an die Schilderung eines Klinikaufenthaltes in einer der jüngsten Waldmann-Moritaten.

Bekenntnis würde ich es nicht nennen, das klingt mir zu akademisch. Ich würde sagen: meine Erfahrungen. Und die spielen eine große Rolle in meinen Büchern – von Anfang an. Allerdings: Ich bin der Autor, nicht die Figur, nicht der Ich-Erzähler. Selbstverständlich fließt das, was ich erlebt habe, auf die selbstverständlichste Weise in die Texte ein. Erfahrungen macht jeder, aber nicht jeder schreibt Bücher. Ich schreibe Bücher, und ich versuche, meine Erfahrungen in meine Sprache zu übersetzen. So einfach ist das.

Das ist auch insofern aufschlussreich, als die Kategorien des Autors und der Realität in der Literaturwissenschaft zeitweilig aus der Mode gekommen waren. Texte bestanden angeblich nur aus Sprache. Demgegenüber betonen Sie als ein sehr sprachbewusster Autor die Bedeutung von Realien.

Man sollte aber jetzt nicht anfangen und fragen: Könnte Waldmann eventuell ein Alter Ego von Ror Wolf sein? Stimmt nicht, bestimmt nicht. Waldmann ist eine zentrale fiktive Figur, die ich über Jahre beibehalten habe. Aber in der Tat, Sie haben es angedeutet, diese Krankenhaus-Moritat oder -Ballade mit Waldmann ist ein sehr persönliches Erlebnis.

Eine letzte Frage: Hilft das Schreiben, um zu leben?

Unbedingt. Also mir auf jeden Fall. Es hat mein Leben spannend und aufregend gemacht. Ich habe mein Leben von einem bestimmten Punkt an – auch natürlich aufgrund der selbstlosen Hilfe meiner Frau, die ein großer Glücksfall für mein Leben ist – so eingerichtet, wie ich wollte, und dazu hat mir das Schreiben verholfen. Ich habe gearbeitet, wann ich wollte: nachts, sonntags oder gar nicht. Ich habe das geschrieben, was ich wollte – ohne Rücksicht auf irgendwas.

Das ist eine beneidenswerte Bilanz, wenn man das von sich sagen kann!

Darüber bin ich auch sehr glücklich.

Das Gespräch führte Christian Maintz.

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