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Kultur: Ruinen für den Schnellverkehr

Luftkrieg und Städtebau: Ein Sammelband beleuchtet die Nähe zwischen Moderne und Militär.

Anfang 1943 sprengte die SS Teile der Altstadt von Marseille nördlich des Vieux Port. 27 000 Bewohner wurden aus dem verrufenen Viertel „Panier“ vertrieben, annähernd 2000 in Lager deportiert. Ein amerikanischer Luftangriff im Mai 1944 auf die noch von der Wehrmacht besetzte Stadt hinterließ weitere schwere Schäden.

Nun hatte der französische Stadtplaner Eugène Beaudouin bereits 1942 einen detaillierten Plan zur Neugestaltung von Marseille vorgelegt, der ebendiese Zerstörungen quasi vorwegnahm. Am Alten Hafen sollten große Wohnblocks entstehen, dazu Straßenschneisen durch das Gewirr des „Panier“. Nach dem Krieg wurden seine Ideen aufgegriffen und am Nordrand des Hafens umgesetzt. Die französischen Planer sich auf Überlegungen berufen, die der Architektur-Avantgardist Le Corbusier bereits seit 1925 propagierte: die aufgelockerte Stadt, „die sich vertikal gen Himmler erhebt, frei für Licht und Luft“. So hatte Le Corbusier seinen Plan für die radikale Umgestaltung von Paris erläutert, der den Abriss des historischen Stadtzentrums und dessen Ersetzung mit durch breite Straßen voneinander abgesetzten Hochhäuser vorsah.

1934 allerdings verriet Le Corbusier einem hochrangigen Offizier ein anderes Argument für seine Pläne als das von „Luft und Licht“, das die Vertreter der Moderne stets im Munde führten. „Vielleicht“, so der gebürtige Schweizer, werde „die Angst vor Lufttorpedos zur vollständigen Umwandlung der Städte führen, durch Zerstörung und Wiederaufbau“. Das stünde im Einklang „mit einer großen Tradition, derzufolge die Mehrzahl der Städte auf militärischen Grundlagen geschaffen“ worden sei.

Le Corbusier stand mit seinen Ansichten nicht alleine. Ganz im Gegenteil: In ganz Europa wurde über die Auswirkungen des Luftkriegs auf die Städte nachgedacht. Nahtlos gingen Planspiele, die mit aller Kraft im Zweiten Weltkrieg angestellt wurden, in die Wiederaufbauanstrengungen der Nachkriegszeit über. Um „Wieder“-Aufbau handelte es sich indessen bei Weitem nicht in allen Fällen. Die Planer waren froh, durch die Verheerungen des Bombenkriegs jene tabula rasa vorzufinden, die sie sich immer schon gewünscht hatten, am radikalsten die Vertreter der Moderne.

Dieser Zusammenhang zwischen der Moderne und dem Kriegsgeschehen ist auch bisher schon gesehen, noch nie aber so umfassend und detailliert beschrieben worden wie von den Hamburger Bauhistorikern Jörn Düwel und Niels Gutschow (die zugleich eine derzeit in Hamburg gezeigte Ausstellung mit dem Schwerpunkt auf die örtlichen Geschehnisse erarbeitet haben). Ob in Frankreich oder Holland, in der Sowjetunion oder im bombenzerpflügten Deutschland, ja sogar im amerikanischen Boston zielten Planungen bereits während des Krieges auf die Herstellung geordneter, hygienischer und zudem gegen Flächenbrände infolge von Luftangriffen gesicherte Städte. In den dreißiger Jahren wurde in ganz Europa über die möglichen Folgen von Bombardements aus der Luft nachgedacht. Der Luftkrieg wurde als selbstverständlich kommendes Geschehen hingenommen.

Es war England, das die ersten Erfahrungen mit fortgesetzten Luftangriffen machen musste. In London wurden im Laufe von nicht weniger als 360 Angriffen der deutschen Luftwaffe 250 000 Einwohner obdachlos. Es dürfte hierzulande wenig bekannt sein, wie stark London etwa im Bereich der Kathedrale St. Paul’s zerstört war. Unmittelbar nach dem ersten Luftangriff im September 1940 begann die landesweite Diskussion über die „City of Tomorrow“, die „Stadt von morgen“. Niels Gutschow, der den Beitrag über England selbst verfasst hat, konstatiert eine erstaunliche Einigkeit aller Planer, ob strikt modernistisch oder eher traditionalistisch, darüber, dass die künftige Stadt nach rationalen Prinzipien neu geordnet werden müsse. Dies übrigens nicht nur zur Verbesserung der chaotischen Verkehrsverhältnisse in London oder der Auflassung von Slums in Manchester, sondern um einer „organischen Sozialstruktur“ willen. Das social engineering des künftigen Wohlfahrtsstaates ist keine Erfindung der Nachkriegszeit, sondern mitten im Krieg schon Konsens.

Bereits im Februar 1943 macht die Ausstellung „Rebuilding Britain“ in der Nationalgalerie von London die Öffentlichkeit mit den weitreichenden Plänen vertraut. Den radikaleren unter den Planern wie der Gruppe „M.A.R.S.“, der 1933 gegründeten „Modern Architecture Research Group“, geht es nicht mehr um „Verbesserung“ der früheren Stadt, sondern um deren „Ersetzung“. An die Stelle von Luftschutzmaßnahmen tritt nun, da die Gefahr deutscher Angriffe gebannt ist, die Steuerung des gesellschaftlichen Miteinanders durch Städtebau. William Beveridge, der langjährige Direktor der London School of Economics und Schöpfer des britischen Sozialsystems der Nachkriegszeit, sprach zur Eröffnung der Ausstellung über die „günstige Gelegenheit“, die der Krieg biete, um den „Kampf gegen das Elend“ zu führen, das in den zu kleinen und zu schlecht ausgestatteten Wohnungen der Städte seine Ausdruck finde. Der einflussreiche amerikanische Architekturkritiker Lewis Mumford war 1942 noch weiter gegangen, als er in einem Aufsatz über „Bauen nach dem Krieg“ als Ziel beschrieb, eine „verbrauchte Zivilisation zu ersetzen“: „Es besteht der Eindruck, dass die Zerstörung durch den Krieg noch nicht weit genug gegangen ist.“

Im Deutschen Reich, dessen Städte ab 1942 in Schutt und Asche gelegt wurden, wurden „Wiederbebauung“ oder gleich „Neugestaltung“ selbstverständliche Teile der Arbeit der Planer unter Oberaufsicht von Rüstungsminister – und Architekt – Albert Speer. Im Vordergrund stand bei Speer die Verkehrsplanung. Die Planungen müssten berücksichtigen, schrieb der zugleich als „Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt“ fungierende Speer, „dass hier eine einmalige Gelegenheit gegeben ist, die Städte nach dem Krieg verkehrsmäßig wieder lebensfähig zu machen“.

Das ist, soweit es Deutschland betrifft, mittlerweile gut bekannt, nicht zuletzt durch die Forschungen von Düwel und Gutschow selbst, die seit vielen Jahren auf die personellen Kontinuitäten zwischen den Speer-Stäben und den kommunalen Baubehörden der jungen Bundesrepublik hingewiesen haben. Neu und bahnbrechend an ihrem hervorragend illustrierten und mit Dokumenten gespickten Sammelband ist jedoch die Perspektive auf die internationale Moderne. Die Zerstörung der überkommenen, als chaotisch und unhygienisch erlebten Städte, die radikale Neuplanung nach rationalen Prinzipien und die Erwartung, durch Städtebau die Gesellschaft formen zu können, verbindet die Planer in ganz Europa, und zwar weitgehend unabhängig vom jeweiligen politischen System. Dabei bleibt die Architektursprache eher zweitrangig. Sie mochte ultramodern sein wie bei Le Corbusier – und den Vertretern des „neuen bauens“ der Weimarer Republik, die zwar von den Nazis verdrängt worden waren, deren Schüler jedoch als Planer im NS-Regime arbeiteten – oder traditionalistisch wie bei den Engländern, die zumeist am Reihenhaus als idealer Wohnform festhielten. Gemeinsam war allen der Glaube an die Formbarkeit der Städte und mit ihnen der Gesellschaft.

Zumeist blieben die Pläne unausgeführt. Die Macht des Faktischen, insbesondere der Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden, erwies sich als stärker. Bedeutende Ausnahmen finden sich in Frankreich, wie erwähnt in Marseille, mehr noch im kriegszerstörten Le Havre, das von Auguste Perret in einem eigentümlichen Beton-Klassizismus auf strengem Straßenraster neu errichtet wurde. Le Havre zählt heute zum Unesco-Weltkulturerbe. In der Bundesrepublik hingegen wurde Speers Forderung zum Leitbild der „autogerechten Stadt“. Dass die Verkehrsschneisen als Schutz gegen Flächenbrände ersonnen worden waren, geriet in Vergessenheit, als ob es im Städtebau je eine Stunde null gegeben hätte.





– Jörn Düwel, Niels Gutschow (Hrsg.):

A Blessing in Disguise. War and Town Planning in Europe, 1940–1945. DOM Publishers, Berlin 2013. 400 Seiten, 98 Euro.

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