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Lars Eidinger als Alceste in Molieres Klassiker, vor dem Konterfei von Judith Rosmair als Celinmene. Regie führt Ivo van Hove.

© Joachim Fieguth

Porentief dein: Saisonbeginn an der Schaubühne: In Video Veritas

"Der Menschenfeind" mit Lars Eidinger. Ivo van Hove, Leiter der Toneelgroep Amsterdam, hat bei seinem Berliner Regiedebüt an der Schaubühne aus Molières Heuchler-Typen digitale Unverbindlichkeitsjunkies gemacht

Alceste (Lars Eidinger) hat einen ziemlich sentimentalen Musikgeschmack. Angeekelt von der Dauerheuchelei seiner Zeitgenossen, flüchtet er sich in der Schaubühne gleich zu Beginn auf eine aparte Designerbank und lässt Billy Joels Ehrlichkeits-Oldie aus seinem iPhone dudeln: „Honesty is such a lonely word, everyone is so untrue.“

Tatsächlich hat Molières „Menschenfeind“ allen Grund, sich wohlig in Joels Lyrics über das Ende der Ehrlichkeit zu suhlen – ist er doch so etwas wie die personifizierte Moral. Wo seine Nächsten für einen erotischen oder beruflichen Vorteil ihre Großmutter auf eBay verscherbeln würden, kommt dem Saubermann nicht mal eine harmlose Notlüge über die Lippen.

Bloß gut, dass das iPhone neben iTunes auch noch andere lebensnotwendige Funktionen besitzt! Apple sei Dank, tritt die lästige Sache mit der Ehrlichkeit nämlich schnell in den Hintergrund, sobald Alcestes Geliebte Célimène auf der Benutzeroberfläche erscheint. Die unwiderstehliche Beauty im kleinen Roten (Judith Rosmair) weist zwar sämtliche von Alceste gegeißelten Defizite auf. Aber sie sieht beim Hineinheucheln in tumbe Männerherzen einfach so unverschämt gut aus, dass der Misanthrop gegen seine Triebnatur chancenlos ist.

Kurzum: Ivo van Hove, der Leiter der Toneelgroep Amsterdam, hat bei seinem Berliner Regiedebüt an der Schaubühne aus Molières Heuchler-Typen digitale Unverbindlichkeitsjunkies gemacht, denen Alceste mit quasi restanalogen Wertvorstellungen auf die Nerven fällt. Das Programmheft liefert dazu eine Art postmodernes Theorie-Backup, was fürs Verständnis des Bühnengeschehens allerdings nicht zwingend notwendig ist. Die Bilder, die van Hove für die digitale Bohème findet, kranken nicht direkt an Überkomplexität. Kommt man hier auf einer Party zusammen, kramt jeder sein Smartphone aus der Hosentasche und monologisiert manisch vor sich hin. Wer sich seinem Partner dennoch analog zu nähern versucht, wird garantiert vom nächsten Handyklingeln zur Raison gebracht. Und was bei Molière der kompromittierende handgeschriebene Brief, ist bei van Hove das angeschickerte Videobekenntnis auf dem iPad.

Dass man die Marken auch in der letzten Zuschauerreihe noch lupenrein erkennen kann, ist zwei Kameramännern zu danken, die das Geschehen vom Bühnenrand aus mitschneiden. Auf einer schicken Videowand kann man wichtige Details – neben den Markenlogos vor allem die Gesichter der Schauspieler – in Großaufnahme betrachten. Die Idee, den Personen auf diese Weise bis in die letzte Pore hinein beim Lügen zuzusehen, hatte übrigens auch schon Andreas Kriegenburg bei seiner „Menschenfeind“-Inszenierung am Hamburger Thalia Theater, die DT-Intendant Ulrich Khuon letztes Jahr ins Berliner Repertoire übernahm: Die Settings ähneln sich deutlich.

Wo alles so supercool daherkommt auf Jan Versweyvelds Bühne, die gern auch mal den Blick auf ein Hinterzimmer mit sinnfälligen Schminktischchen freigibt, stört eigentlich nur – der Text. An Molières knapp 350 Jahre alten Versen, die schnell nach Schulgedichtsdiktion klingen, wenn man sie bloß alltagslässig zu überbürsten versucht, hat van Hove sichtlich weniger gearbeitet als an Equipment und Effekten. Passt ja auch super zum Konzept, wo die Textexegese doch eh nicht zu den Kardinaltugenden der Generation iPhone gehört! Die betagtere – sprich: analog sozialisierte – Arsinoé der Corinna Kirchhoff platzt da tatsächlich wie ein Wesen von einem anderen Theaterstern ins Geschehen. Sofort straffen sich sämtliche Körperzellen im Parkett, wenn sie traumwandlerisch mit Versmaß, Sinneinheiten und gezieltem Regelverstoß jongliert!

Folglich hat der zweistündige Abend in textlastigen Momenten, in denen die Kirchhoff nicht dran ist, auffällige Durststrecken. Unterhaltsam wird er immer dann, wenn die Schauspieler, die sich anscheinend stark in die Probenarbeit eingebracht haben, auf Aktionismus setzen. Vor allem Rosmair und Eidinger, die ihre Figuren nicht platt auspinseln, sondern Moliére-getreu in der Schwebe halten, sorgen mit anspruchsvollen Sprung- und Hebefiguren, akrobatischen Sexszenen oder beherzten Straßenmüll-Schlachten für nicht ganz ironiefreie Kurzweil.

Die denkwürdigste Szene aber gehört dem Protagonisten allein. Wenn sich Lars Eidinger auf dem Partytisch, umgeben von seinen verhassten Zeitgenossen, voll lässiger Verachtung die Hosen runterzieht, den Hintern in die Kamera hält und sich vom Wiener Würstchen bis zur Schokosoße alles hineinschiebt, was das Buffet hergibt, ist das zweifellos ein neuer Meilenstein in der Geschichte der Misanthropenverkörperung!

Wieder am heutigen Dienstag und morgen, 20 Uhr

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