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Redgrave

© AFP

Salzburger Festspiele: Monolog einer Überlebenden

Von Liebe und Schmerz: Vanessa Redgrave gastiert mit Joan Didions Trauerbuch "The Year of Magical Thinking".

Es waren zwei Tage in Manhattan, der 30. Dezember 2003 und der 26. August 2005, als Joan Didion jeweils am Fenster der Intensivstation des Presbyterian Hospital Cornell stand und auf den East River blickte. Beide Male hatte sie gerade einen Menschen verloren, erst ihren Mann John Gregory Dunne, dann ihre Tochter Quintana, ihr einziges Kind.

Die Schriftstellerin beobachtet das mächtige, gleichgültige Fließen, das Steigen und Sinken der Gezeiten, einzig das spendet ihr Trost: Das Leben auf der Erde geht weiter. Und sie erinnert sich an ein Gebet aus der Kindheit: „Wie im Anfang, so auch jetzt in alle Zeit und in Ewigkeit.“

Quer über die Bühne spannt sich ein hellgrauer aquarellierter Prospekt mit dunklen horizontalen Pinselstrichen. Davor steht nur ein Holzsessel für die große Schauspielerin Vanessa Redgrave. Die 71-Jährige spricht, spielt, ja: singt den 100-minütigen Monolog, den Joan Didion aus ihrem bewegenden Trauerbuch „Das Jahr des magischen Denkens“ destilliert hat. Die Broadway-Produktion in der Regie von David Hare, die zum National Theatre wechselte, ist bei den Salzburger Festspielen im Landestheater zu Gast.

Joan Didion und Vanessa Redgrave sind befreundet aus der Zeit, als die Redgrave mit dem Filmregisseur Tony Richardson verheiratet war. Man traf sich in den Siebzigern in Hollywood, wo Didion und ihr Mann lebten und für die Filmfabrik arbeiteten. Zudem verbindet die kritische Autorin des New Journalism und die politisch engagierte Schauspielerin Unangepasstheit. So lag es nahe, dass Joan Didion ihr Bühnen-Ich der Redgrave auf den Leib schrieb.

Allerdings, ihren „Schatten“ (wie Redgrave sich selbst bezeichnet hat) mag man sie nicht nennen. Dazu ist die großgewachsene Britin im Vergleich zur zierlichen, zerbrechlichen, von der Erfahrung doppelten Verlusts gezeichneten Amerikanerin (wie man sie von Fotos kennt) allzu gesund und temperamentvoll. Erstaunlich viel gestikulierend, dazu in breitem Amerikanisch, pflügt sie durch den lakonischen Erinnerungsbericht. Erst am Ende, als die Bühne ganz schwarz ist, findet Redgrave zu stiller Gefasstheit, zu fast körperloser Durchsichtigkeit, auch zu Tränen. „Hab ich dich dein Leben lang belogen?“, fragt sie die tote Tochter. Wider besseres Wissen, am Ende einer rätselhaften Krankengeschichte, hatte sie ihr immer noch Mut eingeredet.

40 Jahre führten Joan Didion und ihr Mann eine symbiotische Schriftsteller- Ehe. Die ein Herzinfarkt auf einen Schlag beendete. Neun Monate lang, begleitet von der Krankheit der Tochter, verharrte die Witwe in dem Zustand, den sie „magisches Denken“ nennt. Es sind Sätze, die mit „Wenn ...“ beginnen: Wenn ich Johns Schuhe nicht wegschenke, sondern behalte, dann kann er jederzeit wiederkommen. Oder sie klammert sich direkt nach dem Tod an den Gedanken der Zeitverschiebung: Wenn sie beide in Los Angeles wären, wäre John gar nicht tot.

„The Year of Magical Thinking“ ist der Bericht einer Reise durch die „Crazyness“ an einen Ort namens Trauer, „den niemand kennt von uns, ehe wir nicht dort waren“. Erst als er erreicht ist, kann Joan Didion das Buch schreiben. In 88 Tagen ist es fertig, und die Tochter kann es noch lesen. Kurz danach stirbt sie an einer akuten Bauchspeicheldrüsenerkrankung. Diesen zweiten Tod, den Joan Didion in die Bühnenfassung integriert, bewältigt sie anders. Sie hat gelernt loszulassen, das Schwierigste für eine Amerikanerin, die den Gefährdungen der Existenz stets mit extremem Kontrollbedürfnis begegnete – bis zu Johns Tod. Sein Herz lehrte sie zuletzt, dass sich nicht alles kontrollieren lässt.

In ihrer ersten Zeit, den Sechzigern, bewohnten Joan Didion und John Dunne ein Haus über den Klippen in Malibu - dorthin lässt die Autorin ihr Bühnen-Ich ganz am Ende zurückkehren. Von der Terrasse des Hauses sah das Paar eine Höhle, in die die Brandung durch eine Felsspalte hineinrauschte. Beim Schwimmen gab es ein Spiel zwischen ihnen. Erwischte man genau den richtigen Moment, konnte man sich auf einer Welle in die Höhle tragen lassen. Joan hatte immer Angst, die Welle zu verpassen, John lehrte sie, den Moment zu erkennen. Diese Lehre bleibt ihr: „Du musst mit der Veränderung mitgehen.“

Die Liebe überlebt den Tod: Das passt trefflich zum Motto „Denn stark wie die Liebe ist der Tod“, das Jürgen Flimm den diesjährigen Festspielen verpasst hat. Die Einladung des New Yorker Gastspiels ist denn auch eine Herzensangelegenheit des Chefs. Seit den Neunzigern – damals ging es um den internationalen Protest gegen brennende Asylbewerberheime in Deutschland – ist er mit Vanessa Redgrave befreundet. Am heutigen Abend lesen die zwei im Anschluss an die letzte Vorstellung Gedichte, die Häftlinge in Guantánamo geschrieben haben.

Andres Müry

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