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Schaghajeh Nosrati im Boulez Saal

© Foto: Jakob Tillmann

Schaghajegh Nosrati im Boulez Saal: Phrasierung ins Unendliche

„Das Wohltemperierte Klavier“ von Johann Sebastian Bach zieht die Summe musikalischen Könnens in der vormodernen Epoche. Jetzt hat Pianistin Schaghajegh Nosrati den Zyklus im Boulez Saal interpretiert.

Wer ins Konzert geht, um die 48 Präludien und Fugen des ersten Bands des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach zu hören, stimmt sich auf eine Hochamt ein – eine musikalische Messe. Der schließt die Augen, gibt sich der Andacht hin, versinkt im reinen Hören. Denn obwohl es sich nicht um ein geistliches Werk handelt, erklingt in dieser fassungslos fein austarierten Konstruktion, in diesem additiven Lauf durch die 24 Dur- und Moll-Tonarten doch eine letztlich von Gott so eingerichtete Welt, in der alles den ihm zugewiesenen Platz hat: der Höhepunkt vormoderner Tonkunst, die noch kein Ich kennt. Das Individuum zieht erst später mit Beethoven in die Musik ein.  

Eine Heiterkeit, die sich von Gott zu emanzipieren scheint

Und doch sind innerhalb dieses strengen Rahmens die Möglichkeiten von Poesie und Ausdruckskraft bis aufs Äußerste ausgereizt, sind nicht nur die Präludien, sondern auch manche Fugen wie die in F-Dur von einer Heiterkeit geprägt, die sich von Gott zu emanzipieren scheint. Das „Wohltemperirte Clavier“, so der Originaltitel, war eigentlich zum Üben gedacht, diente also ganz praktischen Zwecken. Dass es so viel mehr ist, quasi die Summe musikalischen Könnens der Epoche vor dem Beginn der Aufklärung – das hat Bach vielleicht schon geahnt, als er auf das Titelblatt von 1722 schrieb: „zum Nutzen und Gebrauch der Lehrbegierigen Musicalischen Jugend, als auch derer in diesem studio schon habil seyenden.“ 

Neben Rachmaninow ist Bach der wichtigste Komponist für die 1989 in Bochum geborene Schaghajehg Nosrati, die in Hannover studiert hat und 2020 Assistentin von András Schiff an der Barenboim-Said-Akademie wurde. Bei ihrem Auftritt am Donnerstag knipst die junge Pianistin quasi die Welt außerhalb des Boulez Saals sofort aus – und setzt eine Interpretation des Zyklus in Gang, die uhrwerksartig vom populären C-Dur-Präludium bis zur verdämmernden h-Moll-Fuge abschnurrt, nur unterbrochen von einer Pause. Ein gemächlicher Strom, der nie abreißt, geprägt von einem klar ausbuchstabierten, prägnant-nachvollziehbaren Anschlag und einer scheinbar ins Unendliche reichender Phrasierung.

Nosratis Spiel fasziniert in seiner Einheitlichkeit und Homogenität, die wie das perfekte Abbild wirkt von Bachs mit mathematischer Präzision entworfenem Klanggebäude. Und doch fehlt es ihr auch ein bisschen an Temperament, der Vorteil ist auch ein Nachteil: Nosrati gerät manchmal in die gefährliche Nähe von Gleichmut, ohne diesen jedoch zum Glück je wirklich zu erreichen. Erschöpft und glücklich erreichen hingegen Solistin und Publikum schließlich die langgestreckte letzte Fuge in h-Moll mit ihren markanten Sekundreibungen, in der Arnold Schönberg provokant, aber nicht ohne Grund das erste Werk in Zwölftontechnik sah. 

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