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Luigi Nonos Oper "Intolleranza" hat Christoph Schlingensief mit Künstlern aus Burkina Faso nachinszeniert.

© Aino Laberenz

Schlingensief in Brüssel: Das gepflegte Chaos

Wo bitte geht es nach Afrika? Christoph Schlingensiefs Musiktheater „Intolleranza II“ beim Festival des Arts in Brüssel.

Natürlich warten an diesem Abend alle auf Christoph Schlingensief, das Adventöse, Heilsbringerische, Wünschelrutengängerische ist schließlich Teil seines Welttheaters. Die Deutschen im Saal jedenfalls warten, während Belgier, Franzosen und Engländer das entspannter sehen, allgemeiner, schon aus sprachlichen Gründen und weil sie gar nicht wissen, wer dieser deutsche Künstler mit dem unaussprechlichen deutschen Namen sein soll. Sie wissen nichts von Aufführungen wie „Kunst und Gemüse“ oder vom „Fliegenden Holländer“ in Manaus und dem noch unvollendeten Triptychon „Kirche der Angst“, nichts von Schlingensiefs Krebserkrankung und wie offensiv er diese verkunstet und verkauft, nichts von seinem Traum, in Burkina Faso ein „Operndorf“ zu bauen. Anfang Februar wurde unter großer medialer Anteilnahme in Ouagadougou der Grundstein gelegt.

„Intolleranza II“ heißt Schlingensiefs jüngstes Projekt, und wer bei der Brüsseler Uraufführung so etwas erwartet wie die Fortsetzung von Luigi Nonos azione scenica „Intolleranza 1960“, deren Verpflanzung ins 21. Jahrhundert sozusagen, der hat sich geschnitten. Das beginnt mit dem Soundtrack. Für den eingefleischten Kenner dürften wohl ein paar Nono-Noten dabei sein, vom Band und hauptsächlich am Schluss, wenn der winselnde weiße Mann bei Schlingensief begreift, dass er sich einzig an der Kraft des schwarzen Kontinents noch gesundstoßen kann. Nono spricht hier mit Brecht – „Ihr die ihr auftauchen werdet aus der Flut/ In der wir untergegangen sind“ – und komponiert ein sich in kathedralische Klangräume und extreme Sopranhöhen verflüchtigendes, zart polyphones a-capella-Finale. Da solches politisches Bewusstseinstheater als überwunden gilt (jedenfalls, solange man die Musik mit Nono nicht als Protagonistin versteht), hauen Schlingensief und sein Musikmacher Arno Waschk lustig drauf und dagegen. Hier ein bisschen „Tristan“, dort ein paar Takte Trauermarsch aus der „Götterdämmerung“, zwischendrin Rockiges und Schnulziges und „Hoch auf dem gelben Wagen“ („... aber die Abschiebung rollt“) sowie Lieder und Tänze, die die schwarzen Darsteller, mit saftigen Hüftschwüngen aus ihrer westafrikanischen Heimat mitgebracht haben – fertig ist der musikalisch-mythische Scheiterhaufen. Uff.

Da sind Bezüge, natürlich, zwischen dem Gastarbeiterproblem der Sechzigerjahre und denen der Drittweltländer heute. Schlingensiefs theatralische Analyse aber bleibt doch arg peripher, eher teilen sich in diesen 90 Minuten Ratlosigkeit und Zerstreutheit mit, ein Flickerlteppich der Befindlichkeiten, als dass man am Ende klarer sähe und leibhaftiger erfahren hätte, was auf unserem Globus gerade so entsetzlich falsch läuft. Dieses Gefühl zumindest dürfte das Brüsseler Auditorium mit Schlingensief vollständig teilen.

Luigi Nono, Pathetiker, Belcantist, Prophet der Stille, konnte 1960 noch ein Flüchtlingsschicksal zeigen, ohne in banale Moralitäten abzurutschen. Schlingensief hingegen – indem er Nono benutzt, ja herauf beschwört, als Notnagel, als Etikett für die paar besser Gebildeten, die sich vom Musiktheater noch aufklärerische Taten erwarten – ist banal, ja, er will brutalstmöglich banal sein und reißt ein Chaos vom Zaun, so beliebig und konzeptionell konfus wie kindisch und gepflegt. Zehn Kapitel einer Völkerverständigungsrecherche, die so recht niemand versteht, verstehen kann, weder die in Brüssel heftig frierenden Afrikaner noch die vereinzelt lachenden Europäer. Höchstens ein paar Deutsche, ja, die knietief in der Schlingensief-„Darf ich öffentliche Kunstausübung zu meiner persönlichen Therapie erklären?“-Debatte stecken, wobei es da jetzt auch sehr ruhig geworden ist.

Vielleicht ist das zum jetzigen Zeitpunkt die Schlingensief-Frage aller Schlingensief-Fragen: Kann sein Theater wirklich noch etwas sagen, will es das? Und ist es bereit, sich bei allen dekonstruktivistischen Fallsüchten, aller Liebe zum Fragment, zum szenisch Montierten und Geschichteten, bei aller Macht des Autobiografischen an gewisse Regeln zu halten, an die Lust zur Mitteilung und Vermittlung beispielsweise? Oder hat es sich längst verabschiedet und führt nichts anderes vor als ein paar (poptheoretisch hoch gepustete) Selbstgespräche, ein mehr oder weniger intimes szenisches Tagebuch?

Der Künstler, hat Georg Seeßlen jüngst in einer Laudatio auf Schlingensief gesagt, sei ein Mensch, der Dinge tut, die ihm vollkommen entsprechen. Das stimmt. Die Frage ist nur, ob das, was dem Operndorf-Begründer und Lungenkrebspatienten Schlingensief entspricht, auch andere etwas angeht. Und ob seine Kunst Kunst genug ist, stark genug, poetisch und reich genug, dass diese anderen sich ein eigenes Bild machen, von sich und ihren Todesängsten, ihren Träumen. Und überhaupt: Ob sein Theater auch ohne seine Person auskommt und funktioniert.

Die Ästhetik in der Königlich Flämischen Schauburg (Bühne – Thomas George, Thekla von Mühlheim, Christian Schlechter, Kostüme – Aino Laberenz) lässt zunächst wenig hoffen. In der Mitte zwei Brecht-Gardinen, auf die munter projiziert wird, dahinter eine Art Schaufenster zum Ausstellen und Wegsperren, links ein kleiner illuminierter Gral, vorne an der Rampe Tische, Stühle, Lampen, ein Rednerpult – die üblichen „Wir arbeiten hier am Theater“-Requisiten. Schlingensief allerdings wäre nicht Schlingensief, wenn er diese Selbstbezüglichkeiten und Eigenzitate nicht wiederum nach Kräften parodierte: Einerseits ist er, wie beim Hasen und beim Igel, seinen Kritikern also immer um Längen voraus; andererseits tritt derzeit leider etwas wenig an die Stelle dessen, was sich so offensichtlich überholt hat. Ein Stoff, ein echtes Stück, eine Partitur. Zur Wiedereröffnung des Berliner Schiller-Theaters und der Staatsoper mit Jens Joneleits „Metanoia – über das Denken hinaus“ am 3. Oktober mit einem Text von René Pollesch könnte das anders werden. Aber hier? Natürlich verehrt die blutjunge, bildschöne schwarze Sängerin Kandi (Mamunata Guira) „ihren“ Adorno, und natürlich wird Nonos Flüchtling von einem Kleinwüchsigen dargestellt (Amado Komi), und wenn das Ensemble Jesus Christus mit enthusiastischen „Halleluja!“-Rufen für alle Geißeln des schwarzen und weißen Daseins dankt, dann wäre das eigentlich etwas für den ökumenischen Kirchentag in München gewesen.

Zwei Szenen bringen den Konflikt, in dem der Künstler Schlingensief sich weiß, präzise auf den Punkt. Ein Weißer klagt über die pawlowschen Reflexe des „europäischen Kunstkodex“. Ich bin Künstler, erwidert der Schwarze, zu Hause fahre ich Taxi, bitte, bitte erklär’ mir deinen Kunstkodex! Oder die beiden Tänzer, die einander „Armut“, „Liebe“ und „Hunger“ vortanzen, fast so schön wie bei Pina Bausch, der Schwarze mit nacktem Oberkörper, der Weiße streng nach klassischer Manier. Bei „Hunger“ blähen sich die Rippen des Schwarzen wie ein Fesselballon. Da dreht sich der Weiße beleidigt um: „Wie alt bist du? 27? Mit 27 kann das jeder!“

Und dann betritt Schlingensief selbst die Bühne, zweimal, das Warten lohnt sich also, wobei nicht klar wird, ob sein schwankender Schritt inszeniert ist, ein Krebskranker, der einen Krebskranken spielt, oder der Wahrheit und seinem Zustand entspricht. Wir erfahren, dass die Klimaanlage im Brüsseler Hotel nicht auszuschalten sei, die Produktion unter einem schlechten Stern stand und es ihm gesundheitlich eher schlecht gehe. „Wo sind meine Tabletten?“, brüllt Schlingensief und scheucht das Ensemble um die Bühne. Krebbs, sagt der Oberhausener, nicht Kreebs, andere Menschen hätten auch Krebbs, und seit Afrika, seit 50 Grad im Schatten wisse er vor allem eines: Dass er nach Hause wolle. Und dass die Fremdbeglückung durch Kunst auch nur eine Form des Kolonialismus sei, man solle Geld schicken und die Menschen dort machen lassen. Spricht’s und verschwindet und hält, wie es sich für einen Rattenfänger und Voodoo-Zauberer gehört, unser Herz in der Hand.

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