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Kultur: Schneestürme und andere Überraschungen

Gestrandete Europäer, Savianos „Gomorra“ und ein polnisches RAF-Stück eröffnen die Theaterbiennale inWiesbaden

Es hat seine Ironie, dass Europa ausgerechnet am Eröffnungstag der europäischen Theaterbiennale in Wiesbaden mit dem „Nein“ aus Irland einen Rückschlag erlebte. „Neue Stücke aus Europa“: So wie sich der Kontinent in den ersten der 29 Aufführungen präsentierte, hat er es nicht besser verdient: ein gesichtsloser Ort, eine Baustelle auf verseuchtem Grund, ein Gedächtnisraum, durch den die Gespenster der Vergangenheit spuken.

Ein Flughafen, lahmgelegt vom Schnee, in dem alltägliche Menschen mit ihren alltäglichen Geschichten stranden: Das ist der Ausgangspunkt in Tena Stivicics „Funkenflug“ aus Kroatien. Der Kälte internationaler Architektur – im Bühnenbild des Jungen Theaters Zagreb sind es Schiebewände, die wie Filmblenden funktionieren – trotzen ihre zeitweiligen Benutzer.

Die Schriftstellerin und der ehemalige Starjournalist, deren Wiedersehen nach Jahrzehnten vom Tod überschattet ist; die aus dem Gleichgewicht geratene Sicherheitsbeauftragte, das trockene Alkoholikerpaar ; die Stewardessen, die wodkaselig gegen die allgegenwärtige Leistungskontrolle aufbegehren; Olga aus Chabarowsk, die als Au-Pair in die USA will, aber womöglich einer Mädchenhändlerin aufsaß: All ihre Geschichten, Sehnsüchte und ihr Scheitern fügt Stivicic mit leichter Hand zusammen. Die Abgründe, die sie aufreißt, schließt sie beiläufig, sanfte Komik liegt ihr eher als die Operation am offenen Herzen. Janusz Kicas Inszenierung neigt allerdings dazu, die Unauffälligkeit bis zur Unsichtbarkeit zu verwischen; reichlich angejahrt wirken die flotten Choreografien, zu denen das stets sonnenbebrillte Flughafenpersonal antritt.

Nach Dejan Dukovski und Biljana Srbljanovic, die Jugoslawien auf früheren Biennalen mit Stücken über den Bürgerkrieg und das sozialistische Erbe vertraten, zeigt die Wahl-Londonerin Tena Stivicic einen Balkan, der im sicherheitswütigen, konsumversessenen Europa der Globalisierung angekommen ist.

Dass sich ganz Europa in den Fängen der Camorra befindet, hat der mutige neapolitanische Journalist Roberto Saviano recherchiert. Gemeinsamt mit Mario Gelardi vom Mercadante Teatro Stabile di Napoli hat er sein Buch „Gomorra“ für die Bühne adaptiert. Dass es für die Biennale ausgewählt wurde, verdankt das Stück allerdings vor allem dem spektakulären Thema und der Hochachtung vor der Zivilcourage des Autors. Der hält – verkörpert von einem Schauspieler: Saviano kann nicht ohne Polizeischutz auftreten – eine Ansprache ans Publikum und gibt ihm dann den mal willkommenen, mal bedrohten Rechercheur. Doch über die Schlagzeilenillustration – der Container, aus dem tiefgefrorene Chinesen quellen, der frustrierter Maßschneider, der ausländische Billiglöhner in Sweatshops ausbeutet – kommt die lockere Szenenfolge vor einstürzendem Baugerüst nicht hinaus. Einblicke in das Funktionieren des mafiösen Staats im Staat, den strukturellen Zusammenhang von Verbrechen und Politik erhofft man vergebens. Das Staunen lehrt hier nur einer: der Berufskiller Pikachu (Francesco di Leva als zwischen Tanz und Zärtlichkeit changierender, explosiv Gewalttätiger), der vom Boss-Sein mit drei Autos träumt und davon, wie ein Mann mit einer Kugel im Kopf zu sterben – und nicht wie ein Tier zu krepieren.

Überfahren, erschossen, erhängt: Das sind die Todesarten, die sich die Polin Malgorzata Sikorska-Miszczuk für ihr „kollektives RAF-Opfer“ ausgedacht hat. „Der Tod des Eichhörnchenmenschen“ ist das Ergebnis eines Warschauer Wettbewerbs für ein Stück über Ulrike Meinhof; die Autorin verknüpft das Thema mit der polnischen Tradition des Absurden. Der Eichhörnchenmensch, der in Marcin Libers Warschauer Inszenierung aussieht wie ein Punk im Konfirmandenanzug, verliebt sich in Ulrike Meinhofs Unbedingtheit; das Körnchen Unruhe, das sie gesät hat, wächst von der Metapher zur „echten“ Bombe heran. Flugzeuge, die durch Fenster fliegen, erinnern an den 11. September, über den Kopf gezogene Papiertüten mit dem Konterfei der toten Meinhof in hässlicher Doppeldeutigkeit an Folteropfer und Kommerzialisierung à la Che Guevara. Aus dem nackten Rücken der Meinhof scheint ein Flügel zu wachsen, angezogen ähnelt sie der Jungfrau von Orléans. Bei all dem ist Sikorska-Miszczuk weit davon entfernt, mit dem RAF-Terror zu sympathisieren; der blutige Schrecken und die Bonnie-und-Clyde-Selbstüberhebung vor allem von Ensslin und Baader sind allgegenwärtig.

Angesiedelt ist das Spiel um Sprache und Gewalt zwischen Stellwänden, auf die agitpropähnliche Filmcollagen projiziert werden, versetzt mit jeder Menge Anspielungen aus Kunstgeschichte und Mythologie, die Postmoderne lässt grüßen. Und irgendwann wird nur noch Station auf Station – Baader-Befreiung, Stammheim, die Selbstmorde – abgespult, als erschrecke das Theater vor seinem freien, fast schockierend poetischen Umgang mit dem bedrückenden Stoff. Aber zumindest ansatzweise wird hier, vermittelt durch einen fremden Blick, die Historisierung eines nationalen Traumas denkbar. Ein europäisches Geschenk, über die Grenzen von Generationen und Ländern hinweg.

Noch bis zum 22. Juni sind die „Neuen Stücke“ in Wiesbaden zu sehen. Aus Deutschland eingeladen sind Falk Richters „Im Ausnahmezustand“, eine negative Utopie aus der Welt der gated communities, und Dea Lohers „Das letzte Feuer“, ausgezeichnet mit dem Mülheimer Dramatikerpreis.

Infos unter www.staatstheater-wiesbaden.de/biennale

Ruth Fühner

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