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Kultur: Schocks und Sensationen

„Blast to Freeze“ – das Kunstmuseum Wolfsburg feiert ein Jahrhundert britische Kunst

Von Ulrich Clewing

Der Bohrer ist echt. Der Arbeiter natürlich auch, aber nur im künstlerischen Sinn: Wie ein futuristischer Insektenmensch hockt er auf dem spinnenbeinigen Werkzeug und hält die Kurbel, die früher Löcher in den Fels drehte. Jacob Epsteins Skulptur „Rock Drill“ am Eingang der Ausstellung „Blast to Freeze“ ist mehr als nur ein eindrucksvoller Willkommensgruß. Man kann das Werk auch als Metapher verstehen: Leicht hatte es die Moderne nicht im Vereinigten Königreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die frischen Ideen kamen aus Paris oder Turin, erreichten England erst mit Verspätung und dann oft nur aus zweiter oder dritter Hand. Daher wirken die Arbeiten von Malern wie Edward Wadsworth, Frederic Etchells oder Helen Saunders in den ersten Sälen des Parcours bei aller Neuartigkeit seltsam konstruiert und akademisch, als fehlte ihnen das entscheidende letzte Quäntchen innerer Notwendigkeit.

Das freilich steht in Wolfsburg nur zwischen den Zeilen, der Haupttext lautet anders und holt weit aus: ein Jahrhundert britische Kunst, dargestellt anhand von mehr als dreihundert Werken von über hundert Künstlern, ein Unternehmen vergleichbarer Größe hat es bisher noch nicht gegeben. So etwas stemmt nicht einmal das finanziell gut ausgestattete Kunstmuseum allein, weshalb sich Direktor Gijs van Tuyl mit dem ehemaligen Leiter der Londoner Hayward Gallery, Henry Meyric Hughes, einen kompetenten Partner suchte. Meyric Hughes ist in Deutschland kein Unbekannter, als Kokurator verantwortete er 1997 die Berliner Schau „Die Epoche der Moderne". Und es existiert noch eine weitere Verbindung zu Berlin: Den gelungenen Rundgang hat David Chipperfield entworfen, jener Architekt, der bald auf der Museumsinsel tätig werden wird.

Die Ausstellung setzt ein mit dem Kreis um Percy Wyndam Lewis, den „ Vortizisten“, wie sich die britischen Futuristen nannten. In der im Juni 1914 zum ersten Mal erschienenen Zeitschrift „Blast“ hatte Lewis einen flammenden Aufruf veröffentlicht, in dem er „die Revolution“ in Kunst und Gesellschaft forderte. Ästhetisch lehnten sich die Vortizisten an Tendenzen an, die im übrigen Europa bereits einige Jahre zuvor entwickelt worden waren: Abstraktion, Kubismus und Konstruktivismus. Ergreifender sind allerdings die Werke, die während des Ersten Weltkrieges (in offiziellem Auftrag!) als Anti-Kriegspropaganda im Stil des Realismus entstanden. Dabei lernt der Besucher neue n und ungesehene Bilder kennen. Die marschierenden Truppen, die Schützengräben und Schlachtfelder von Paul Nash, William Roberts oder Christopher Nevinson waren bislang lediglich Experten ein Begriff.

Danach war es wieder wie vor 1914. Die Maler und Bildhauer orientierten sich nach Paris, praktizierten ausgiebig den Surrealismus, ohne darin wirklich eigenständig zu sein. Eine Ausnahme bildete der in Wolfsburg umfangreich vorgestellte Einzelgänger Stanley Spencer, dessen figürliche Gemälde eine spezifisch britische Tradition begründeten, die Lucian Freud, Peter Blake und Francis Bacon nach 1945 zu voller Blüte führen sollten. Richtig in Fahrt kommt die britische Kunst erst in den späten fünfziger und sechziger Jahren, dann aber mit Macht und wundervoller, unverwechselbarer Eigenart. Da ist einmal eine große Naturverbundenheit, die sich in den Land-Art-Stücken von Richard Long und Keith Arnatt zeigt. Da ist Malerei als Malerei mit Leon Kossoff als dem Meister der Farbpastenorgie. Und dann ist da – selbstredend – die Pop-Art, nicht so übersichtlich, gebürstet und clean wie die amerikanische Variante, dafür aber mindestens so geistreich: mit Peter Blake und seinen Beatles-Porträts, David Hockney, dem Liebling aller Klassen, mit den verrückten bunten Plastiken von Eduardo Paolozzi, mit Gilbert und George in ihrer faszinierenden frühen Phase oder Richard Hamilton, dem Wortschöpfer der Pop-Art, von dem nicht die berühmte Collage ausgestellt ist, sondern ein beängstigend klinischer „Treatment Room“ von 1984.

Auf Pop folgt Op, zuvörderst die augentäuschenden Farbkompositionen von Bridget Riley, und weiter geht es mit allseits geschätzten Größen des internationalen Kunstbetriebs. Die Bildhauer Antony Caro, Tony Cragg, Anish Kapoor, Anthony Gormley oder Richard Wentworth, die Konzeptkunst- Gruppe Art and Language, der Maler Julian Opie, Rachel Whiteread mit „Ghost“, einem ihrer mit Beton ausgegossenen Innenräume – sie alle beweisen die dezente Dominanz und Wirkungskraft der britischen Kunst der Gegenwart, lange vor den Aufsehen erregenden Young British Artists. Um Letztere haben die Ausstellungsmacher einen großen Bogen gemacht, die Schau endet mit dem Jahr 1992 – eine weise Entscheidung, die wohl nicht zuletzt aus Eigennutz getroffen wurde. So gibt es immer Stoff für eine nächste Ausstellung. Nur Damien Hirst ist noch hineingerutscht in dieses reiche Panorama. Er präsentiert – Achtung, Tierschützer – seine „a hundred years“ betitelte Fliegenfalle. Eingängig, pflegeleicht und besonders nett war Kunst aus Großbritannien nie.

Kunstmuseum Wolfburg, bis 19. Januar 2003, der Katalog kostet 39 Euro.

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