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Kultur: Schöne Stellen

Die Studenten der Sechziger waren fasziniert von seiner Ideologiekritik – und seiner Ängstlichkeit. Aber brauchen wir Theodor W. Adorno heute?

Er hat ja keine Schule gemacht; obwohl es eine, die Frankfurter Schule war, als deren Gründungsvater er (mit Max Horkheimer) in die Geschichte der Bundesrepublik einging. Deren offizieller Erbe, Jürgen Habermas, vollzog während der Siebzigerjahre in seinem Denken eine veritable Kehre und landete bei einer hochkomplexen, gleichwohl unaufgeregten Sprach- und Moralphilosophie. Unaufgeregt will sagen: Das Apokalyptische bei Adorno – jetzt geschieht etwas Unwiderrufliches, jetzt! – fiel bei Habermas weg. Eine Theorie des kommunikativen Handelns kann sich darauf verlassen, dass dieses Handeln ununterbrochen stattfindet.

Was bei Habermas außerdem wegfiel: die Kunst. Zwar taucht neben dem kommunikativen zuweilen ein ästhetisch-expressives Handeln auf, doch arbeitete weder Habermas noch einer seiner Schüler die Kategorie so aus, dass man damit Punk und die Love Parade beschreiben könnte. Ein wenig kam es mir immer so vor, als halte die Habermas-Fraktion die Ästhetik tendenziell für faschistisch, weil sie sich moralischer Kompetenz entzieht. Schon gar, wenn Sozialverhalten selber ästhetisch wird.

Dass Adorno, der 1969 starb, an der Universität der Siebzigerjahre hätte weiterarbeiten können, wo speziell in Philosophie und Soziologie der Mickymaus-Stalinismus der K-Gruppen blühte, ist undenkbar. Habermas hätte ihm vielleicht eine Position in seinem Starnberger Institut verschafft; von Starnberg aus sieht man zuweilen die Berge, die Adorno so liebte.

Was hätte er dort getrieben? Vermutlich das Beethovenbuch abgeschlossen, an dem er so lange schon schrieb. Im Zentrum seiner Arbeit stand unzweifelhaft die Kunst, die Musik. Charakterologisch-ideologiekritische Auslassungen, in der Studentenrevolte komme die autoritäre Persönlichkeit zu sich selber, gerade indem sie gegen die autoritäre Persönlichkeit rebelliere, wären nur als persönliche Aufzeichnung überliefert.

Für Adorno, der kein Komponist aus der Schönberg-Schule wurde, sondern ein Präzeptor der Bundesrepublik, stellte die Kunst so etwas wie eine adamitische Sprache dar, Kommunikation vor dem Sündenfall. In einem Text von 1953 präsentierte er den Artisten als Stellvertreter einer zu befreienden Menschheit. Gewiss kommt man Adorno am nächsten, wenn man seine Texte zur Musik oder die „Noten zur Literatur“ liest; der Furor des berüchtigten Kapitels „Kulturindustrie“ aus der Dialektik der Aufklärung wird vor diesem Hintergrund verständlicher als eine Übung in negativer Theologie. Danach klingt unterdessen vieles, was Adorno als Sozialkritiker schrieb. Die Gesellschaft war mit dem Nationalsozialismus (und dem Stalinismus) nicht nur historisch auf das fürchterlichste in die Irre gegangen, sie war kategorisch falsch, wie Adornos berühmte, längst als Sprichwörter verwendbare Sätze sagen: Das Ganze ist das Unwahre. Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Die Soziologie, die dieses falsche Leben erforscht, muss man im Grunde als negative Theologie betreiben.

Gewiss tröstete es die junge Bundesrepublik, dass Adorno den entsprechenden Kadern den Zugang zu Kunst und Philosophie offen ließ, während sein Denken im übrigen den Nationalsozialismus zum Zentrum hatte. Dessen gesellschaftliche Voraussetzungen bestanden weiter, wie er unnachgiebig lehrte. Dass die RAF es genau so sah und deshalb Hanns Martin Schleyer als Funktionär des Kapitals erschoss, hätte ihn in seinem Starnberger Exil gewiss grauenhaft gequält.

Dass die Literatur das Leitmedium der Fünfziger und frühen Sechziger bildete (man denke an die Strahlkraft der Gruppe 47), mag mit Adornos Präzeptorenrolle zusammenhängen. Ein vergessenes Buch wie Walter Jens’ „Herr Meister“ (1963), in dem ein Schriftsteller und ein Literaturwissenschaftler die (Un-)Möglichkeit erörtern, einen Wilhelm Meister der Gegenwart zu schreiben, folgt einer Denkfigur Adornos, in der er Poetik und Geschichtsphilosophie verknüpfte. Ist der allwissende Erzähler angesichts einer immer komplexeren Welt überhaupt noch möglich? Erreicht die neueste Lyrik ihr Äußerstes nicht gerade darin, dass sie kurz vor dem Ziel zerbricht? Solche Fragen anlässlich der Neuerscheinungen grüblerisch vor sich her zu rollen, war von jedem renommierten Literaturkritiker der Zeit gefordert.

Womöglich gelang es Adornos ästhetischer Reflexion, in der Bundesrepublik die deutsche Kunst- und Bildungsreligion, durch Negativität gereinigt, in Resten wieder aufzurichten, Kant und Hegel, Bach und Beethoven, Goethe, Eichendorff, Heine und Stefan George. Sonst wären wir alle sofort zu William James und John Dewey, zum Jazz, zum Hollywoodkino und zu Hemingway übergelaufen. Dass Adorno den Jazz als Höllenmusik perhorreszierte, ist bekannt; und die angloamerikanische Philosophie ebenso wie Literatur fehlt in seinem persönlichen Kanon.

Wer sich heute in die Ästhetische Theorie, das nachgelassene, unfertige Werk vertieft – womöglich gemeinsam mit Kunststudenten, wie es Isabelle Graw in einem interessanten Beitrag für die „taz“ beschrieb – stößt auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Es bleibt dem gegenwärtigen Leser verborgen, von welchen Kunstwerken Adorno handelt; gewiss ist, dass die zeitgenössische Kunst sich seinem Denken verschließt. Das war schon damals so: Wer die letzte Documenta vor Augen hatte; wer Helmut Heißenbüttels Vorlesungen zuhörte (er hatte 1963 den Poetiklehrstuhl in Frankfurt inne) oder Bazon Brocks Happenings zuschaute – immerhin führende Avantgardisten – dem misslang die Verknüpfung mit Adornos Reflexionen gründlich.

Das machte aber nichts. Was die Studenten – bis auf einen kleinen Kreis um den Meister herum – beschäftigte, war nicht adäquates Kunstverständnis. Dass Adorno darüber verfügte, trug zu seiner Autorität bei: Dass man, grob gesagt, die Welt schwarz sehen konnte, tiefschwarz, verdankte sich ja gleichfalls, wie wir meinten, einem gewissermaßen esoterischen Zugang zur Welt. Denn die BRD begann doch eben, sich mit ein bisschen Selbstbewusstsein zu betrachten. Das Ganze ist das Unwahre – wie kann man das wissen? Bevor er zur Sprachphilosophie desertierte, plante Jürgen Habermas, die Frankfurter Schule erkenntnistheoretisch zu fundieren. Wer gewinnt wie Einsicht in das Pathologische der Gesellschaft? Das sie selbst ja mit Notwendigkeit verleugnet ...

Auch mir, dem Erstsemester von 1963, fehlte der primäre Zugang zu Adornos Ästhetik. Wie viele seiner Studenten stammte ich aus keiner Akademikerfamilie, die Umgang mit Kunst und Bildungsgütern pflegt. Wir wollten diese Zugangsmöglichkeiten erst erwerben – der Soziologe Pierre Bourdieu hat verdienten Ruhm mit Untersuchungen geerntet, die das kulturelle Feld als den Schauplatz sublimierter Klassenkämpfe nachzeichnen.

Was Adorno in den Augen von uns Newcomern zusätzliche Autorität verschaffte: dass er so ängstlich war. Das waren wir ja auch; wir kannten uns in der Universität als Institution kaum aus. Zwischen unserer Angst und der des Remigranten, der die Mächte, die ihn vertrieben, immer noch am Werk sah, entstanden merkwürdige Verbindungen. Allein seine Sprechweise, das sorgfältige Überartikulieren, das Ausformulieren eines jeden Satzes, erinnerte mich stets an das Schulkind, das sich in dem fremden Milieu nur zur Geltung bringen kann, wenn es seine Intelligenz ausschöpft (statt sich mit den Kumpels zu hauen). Angesichts von Adornos Herkunft und Bildungsgang muss man das als Missverständnis erkennen. Aber es funktionierte.

So wenig wie die Ästhetik verschaffte seine Philosophie Adorno den Massenerfolg – der ihn schließlich ins Starnberger Exil vertrieben hätte. Seine ebenso bewunderungswürdigen wie qualvollen Anstrengungen, das Denken als totalitär zu kritisieren und zwar durch das Denken selbst: Diese Anstrengungen kann man zwar, wenn man mag, an manchen Stellen im Poststrukturalismus wiederfinden. Michel Foucault gestand, dass er bei seinen Untersuchungen des Gefängnisses und des Irrenhauses die Dialektik der Aufklärung erfinden musste, weil er das Buch nicht kannte.

Aber wer auch nur eine Seite der „Negativen Dialektik“ (1966) sorgsam studiert, dem zerfällt sie unter den Augen. In Ideologiekritik, insbesondere an Heideggers Fundamental-Ontologie; in elegante logische Paradoxien; in unverständliche Randbemerkungen und Vorausdeutungen auf Niklas Luhmanns Systemtheorie: die Gesellschaft ist ein reiner Funktionszusammenhang geworden. Freilich meinte Adorno das kritisch.

Womit Adorno die Studenten der Sechziger gewann, insbesondere solche wie mich, die sich zwecks Bildung erst einmal sozial entwurzelten: Ideologiekritik. Eine Hermeneutik des Verdachts enthüllt, wie die Reklame und das Fernsehen, die Regierungserklärung und der Städtebau, das Kinderbuch und das Sexualstrafrecht täuschen. Glauben Sie nicht, habe ich den alten Horkheimer im Ohr, der aus Lugano für eine Vorlesung oder ein Seminar herüberkam, glauben Sie nicht, dass dies die wirkliche Welt ist! In den Siebzigern wurde die Ideologiekritik zu einem Massensport; sie drang sogar in das schulische Curriculum vor: Man lernte die verschleierten Botschaften der Bildzeitung oder des neuesten BMW zu entschlüsseln.

Das ermüdet sehr. Und heutzutage bin ich froh, dass mir kein Feuilleton mit eiserner Miene demonstrierte, wie eine beliebige und nichtige Subjektivität sich in Shows wie „Deutschland sucht den Superstar“ narzisstisch spreizt, bloß um zu verdecken, dass in Wahrheit in der verwalteten Welt alle substanzielle Subjektivität zur Bedeutungslosigkeit verkam ...

Wie geht es weiter? Lorenz Jäger grub in seiner politischen Adorno-Biografie (erschienen bei DVA, siehe Tsp. vom 30.8.) einen Schatz zauberhafter Zitate aus, die schönen Stellen gewissermaßen, in denen Adorno, seinem Meister Walter Benjamin nahe kommend, Poesie und Reflexion zu Denkbildern verdichtet, die auszulegen weiter gehende Belehrung verspricht. Solche schönen Stellen finden sich auch oft in den Seitenglossen, mit denen diese Zeitung im Vorlauf zum Geburtstag an Adorno erinnert. Der Philosoph Martin Seel zeigte (in der Monatszeitschrift „Merkur“), wie sich aus solchen Clips Adornos kontemplative Ethik gewinnen lässt: Betrachte deine Erfahrung. So geht es weiter. Das Positive.

Michael Rutschky

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