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Kultur: Schöne erstarrte Welt

Literatur hat vor allem mit Sprachvermögen zu tun: Roman Ehrlichs brillanter Debütroman „Das kalte Jahr“.

Im April des Jahres 1815 brach auf der indonesischen Insel Sumbawa der Vulkan Tambora aus. Bei der Explosion starben mindestens 70 000 Menschen; das bei der Eruption in die Atmosphäre geschleuderte Material wirkte sich auf das globale Klima aus; in Europa und Amerika erhielt das folgende Jahr 1816 die Bezeichnung „Jahr ohne Sommer“. Die Folge waren Missernten und Hungersnöte, später dann Überschwemmungen und Auswanderungswellen von Europa nach Amerika. Das Jahr ohne Sommer blieb den Menschen ein Rätsel; erst mehr als ein Jahrhundert später führte der Klimaforscher William Jackson Humphreys die Tambora-Explosion als wahrscheinliche Ursache für die Klimaveränderung in den wissenschaftlichen Diskurs ein.

Diese Episode steht am Anfang von Roman Ehrlichs Debütroman „Das kalte Jahr“, und möglicherweise, darüber lässt sich nur spekulieren, bildet sie auch den Kern zur Idee, die Ehrlichs Roman antreibt; die Folie für eine Dystopie, für ein Szenario, das nicht erklärbar ist, weil die Menschen dafür überhaupt noch keine Erklärung gefunden haben können.

Roman Ehrlich, Jahrgang 1983 und Absolvent des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig, ist der klassische Fall des ungerechtfertigten Leerausgehers bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Der von ihm vorgetragene Auszug aus seinem Roman wurde dieses Jahr von der Jury überwiegend gelobt, er war auch bei der abschließenden Abstimmung immer wieder im Gespräch – und er blieb am Ende ganz ohne Auszeichnung. Die düstere Rätselhaftigkeit des Textes, das lässt sich nun nach der kompletten Lektüre des Romans festhalten, löst sich auch nach knapp 250 beklemmenden und sprachlich enorm diszipliniert gehaltenen Seiten nicht auf.

Am Anfang steht ein Aufbruch. Ein junger Mann verlässt, „es war kein lange vorher gefasster Entschluss“, seine Wohnung in einer größeren Stadt und beginnt, durch die Kälte und das dichte Schneetreiben in Richtung Norden zu laufen, dem Dorf seiner Kindheit und dem Haus seiner Eltern entgegen, das irgendwo an der Küste, am Rande eines aufgegebenen Militärübungsplatzes liegt. Der Mann, der im gesamten Roman namenlos bleiben wird, läuft durch ein Land, in dem die Infrastruktur noch vorhanden und funktionsfähig ist, immer entlang an Autobahnen und Schnellstraßen, vorbei an Tankstellen, Großmastbetrieben und Hotels. Trotzdem ist das Land gleichzeitig in einem merkwürdigen Schwebezustand der Paralyse gefangen. Es ist dieser Schwebezustand, den Roman Ehrlich konsequent durchhalten wird. Als der Mann am Haus seiner Eltern ankommt, sind diese verschwunden, ohne dass darum weiteres Aufhebens gemacht würde. Stattdessen findet er dort einen Jungen namens Richard vor, der das Haus mit Selbstverständlichkeit bewohnt und an einem größeren handwerklichen Projekt zu arbeiten scheint.

„Das kalte Jahr“ läuft auf zwei Handlungsebenen. Zum einen im konkreten Jetzt der dunklen, dauerverschneiten und latent bedrohlichen Dorfwirklichkeit. Zum anderen auf der Ebene der Erzählungen, die der junge Mann Richard zuteil werden lässt und die allesamt mit Zerstörung, Abriss und Neubeginn zu tun haben, sei es die Geschichte des Architekten Dankmar Liebmann, Sohn eines im 19. Jahrhundert nach Amerika ausgewanderten Rabbiners, der nach dem großen Brand in Chicago im Jahr 1871 als Architekt maßgeblich an der Neuplanung der Stadt beteiligt war; sei es die des deutschen Anarchisten Louis Link, der im Alter von 22 Jahren am Tag vor seiner geplanten Hinrichtung im Gefängnis von Chicago auf eine Sprengkapsel biss und sich auf diese Weise selbst tötete.

Unklar bleibt, welche der Geschichten wahr und welche erfunden sind. Ähnlich wie Thomas von Steinaecker in seinem jüngsten Roman „Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen“, hat auch Ehrlich in sein Buch schwarz-weiße Fotografien und Zeichnungen eingearbeitet, die den vermeintlichen Wahrheitsgehalt des Erzählten dokumentieren sollen; sogar Quellenangaben finden sich dazu. Stattdessen heben sie aber, man weiß um die Manipulierbarkeit von Fotografien, den fiktionalen Charakter umso stärker hervor.

Wie aber nähert man sich einem solchen Buch, das sich in seiner Geschlossenheit und auch technischen Brillanz vehement jeglicher Interpretation verwehrt? Die Frage, was das alles soll, ist definitiv die falsche. Vielleicht soll all das gar nichts, außer schlicht und einfach Literatur sein: Sprache, Weltentwurf, Weltneuentwurf, Text gewordene Krisensituation. „Das kalte Jahr“ gefällt sich nicht in der Erhabenheit eines mit viel Geschick entworfenen Ambientes von Einsamkeit und Entleerung.

Es ist schließlich eine überaus ironische Pointe, dass der Ich-Erzähler Anstellung ausgerechnet in einem Fernsehreparaturgeschäft findet, in dem es unter anderem zu seinen Aufgaben gehört, Nachrichten aus aller Welt auf Videobändern zusammenzuschneiden und an die vom Informationsfluss abgeschnittene Bevölkerung zu verteilen. Daraus entsteht ein Flickenteppich von Bildern, dessen Zuverlässigkeit getrost zu bezweifeln ist. Auch hier gelten andere Gesetze. Christoph Schröder

Roman Ehrlich:

Das kalte Jahr.

Roman. DuMont Buchverlag, Köln 2013.

248 Seiten, 19,99 €.

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