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Kultur: „Schreib’ das auf, Lindemann!“

Warum die Jugend von heute nur noch kuschelt. Eine Berliner Nachtclub-Geschichte / Von Joachim Lottmann

Er war der nette Hamburger. Schon am Telefon. Die Reportage – das „Feature“ – sollte eine Ausgehnacht mit mir beschreiben, Titel: „Eine Nacht mit Joachim Lottmann.“ Wir trafen uns im Club Kurvenstar am Hackeschen Markt, wo ich ja auch wohnte. „Sie wohnen doch im KurvenstarHaus, da müssen Sie nur die Treppe runterlaufen.“ Er hatte gut recherchiert, dieser Reporter. Nicht gut genug. Ich wohne inzwischen in Friedrichshain, für 99 Euro im Monat, und fahre gegebenenfalls mit dem Wartburg Tourist 353 Super nach Mitte. Ich erklärte es ihm und gab ihm den Tipp, auf das Zweitaktgeräusch zu achten. Wenn er das höre, sei ich da.

So war es auch. Er hörte das Geknatter und reckte den Kopf nach draußen. Dort stand ich, der Mann mit dem viel zu großen Quadratschädel, hinter mir der Berliner Dom in den letzten Sonnenstrahlen. Der Himmel war schon tiefblau in die kommende, so verheißungsvolle Nacht eingetaucht. Die dichten alten Bäume des Monbijou-Parks rauschten, man hätte gut einen Spaziergang dort machen und dabei den Laberflash kriegen können, so interviewmäßig. Aber ich ging kurz mit rein, ins Sexy Strech, und schlug vor, erstmal eine Runde zu cruisen. Es war erst 18 Uhr und noch nichts los im Club. „Mit dem Wartburg?!“ – „Ein fetter Schlitten, Mann. Die Bräute stehen drauf, wirst sehen.“ In Wirklichkeit musste ich einfach noch was erledigen, hatte zudem keine Lust auf ein Interview. Ich hasse Reporterfragen. Ich hasse mich, wenn ich darauf antworte. Ich erklärte es ihm: „Du kannst mich was fragen, aber keine Reporterfragen, okeeh? Auf Reporterfragen antworte ich nicht. Das hat nichts mit dir zu tun. So habe ich das schon gemacht, bevor ich dich kennen lernte.“

Ich kannte ihn erst seit zwei Minuten. Es wurde Zeit, dass ich ihm ein paar Fragen stellte. „Wo bist du geboren?“ – „In Rellingen bei Pinneberg.“ – „Hast du Geschwister?“ – „Einen jüngeren Bruder.“ – „Was machen deine Eltern, während du dich hier herumtreibst?“ – „Beides Kaufleute.“ – „Auf welche Schule bist du gegangen?“ – „Gymnasium Halstenbek.“ – „Welche Musik hörst du?“ – „Jazz. Ich spiele Klavier. Ich spiele Jazz auf dem Klavier, hab auch schon mal...“

Ich winkte ab. Die Rechnung kam, wir mussten los. Es ging erstmal nach Friedrichshain, wo ich die Limousine in meiner Garage abstellte. „Hast du schon eine Freundin?“ fragte ich. Er wurde rot. „Äh, nein. Das heißt ja. Also, wissen Sie, ich...“ – „Na, heute kriegst du eine.“ Die jungen Volontäre, die die Zeitungen heutzutage schickten, kannten den Geschlechtsverkehr ja nur noch vom Hörensagen.

Er erzählte von einem Freund namens Lars, der noch Jungfrau sei und das leidenschaftlich. Er schüttelte den Kopf. „Ich verdanke dem Roman ,Die Jugend von heute‘, dass ich Lars endlich verstehe. Er redet immer nur vom Kuscheln und Schmusen, wie in Ihrem Buch!“ – „Danke. Ja, so sind sie heute alle.“ – „Wirklich ALLE?“ – Ich nickte. Die zweite Generation der allein erzogenen Kinder. Vaterlos und vaterlandslos, ohne Identität und absolut bindungsunfähig. Ich hätte viel sagen können. Aber dann wäre es ein Reportergespräch geworden. Er pusselte bereits an seinem kleinen Digitalaufnahmegerät herum. Vielleicht siezte ich ihn lieber.

„Lindemann, Sie müssen Ihren Bericht wie ein Popautor schreiben, nicht wie ein Journalist.“ – „Gute Idee.“ – „Hauptsache: keine blöden Tonbandaufnahmen!“ – „Und das Interview?“ – „Wenn Sie sich Sätze nicht merken können, sind sie auch nichts wert gewesen.“

Zu Fuß gingen wir zur Straßenbahnhaltestelle und fuhren mit der Linie 20 bis zur Schönhauser Allee. Ich merkte, dass der Junge keine Augen für die Stadt hatte. Ich zeigte ihm die ganze Schönheit dieser anonymen, zeitlosen, großzügigen Metropole, aber er starrte nur auf mich. Immer wollten die Reporter wissen, wie man zu Walser, zu Rainald Goetz oder zu Stuckrad-Barre stand. „Kann ich nicht sagen, sind Reporterfragen.“ – „Und zu Christian Kracht und seiner neuen Zeitschrift ,Der Freund‘?“ – „Mach doch deinen Daten-Abgleich mit wem anderes. Schau lieber nach draußen, mach mal die Augen auf!“

Noch hundert Meter bis zum Club ‚nbi‘. Zum Glück klingelte das Handy. Ich riss das pfundschwere 1995er Motorola ans Ohr. Mein Verleger Helge Malchow. „Helge! Was läuft?“ Er wirkte gestresst: „Ich sitze bei Wolf Biermann fest. Endskrass öde. Was machst du?“ – „Ein Zeitungsmann von der Welt am Sonntag stellt mir Meinungsfragen.“ Der Genannte zuckte zusammen. Ich merkte, wie er sich vornahm, seine Fragetechnik zu ändern. Mit Helge verabredete ich mich für später. „Wir hätten mit dem Wartburg auch bis zum ,nbi‘ fahren können. Aber dort sind mein Neffe Elias und seine Homies, die haben einen fetten 7er BMW, mit dem cruisen wir nachher durch Mitte!“

So war es auch. Um es vorwegzunehmen: Wir alle, selbst meine Lektorin, heizten mit dem Münchner Nobelschlitten durch die Nacht, die lachenden Bräute auf dem Schoß. Generation Jungbrunnen. Für die Jugend von heute gab es kein Alter mehr. Keine Grenze. Keine Nation. Dabei war, wer dabei war. Lindemann kritzelte alles mit...

Wir betraten den Club, ich begrüßte Wolfgang Herrndorf, den Altmeister der Popliteratur. Er war in diesem Sommer mit einem wichtigen Literaturpreis für sein Lebenswerk geehrt worden. Wahnsinn, dass er nun mir seinen respect zollte! Ich hatte das Manuskript für die Lesung vergessen und rief meine Frau an, es schnell zu bringen. Der junge Reporter hörte hochkonzentriert zu. Aufmerksam fragte er: „Sind Sie deswegen mit Ihrer Frau zusammen, weil Sie Ihnen die Sachen hinterherträgt?“ – „Hm... Also tugendhaft sollte eine Frau schon sein.“ Oder hätte ich ihn ohrfeigen sollen? Blödsinn. Seine Fragen wurden wenigstens frecher. Er war kein schlechter Kerl, ich mochte ihn. Letzte Woche hatte einer von der taz 200 Zeilen lang geschrieben, ich hätte ein Graubrotgesicht. Dann lieber sowas...

Ich brachte die Lesung hinter mich. Dank der guten Bühnenshow mit Ulrike Sterblich und Kerstin Grether wars äußerst kurzweilig und sofort vorbei, nach (subjektiv gefühlten) drei Minuten. Objektiv dauerte es bis 23 Uhr. Danach traf ich wieder auf meinen Reporter. Der hatte inzwischen gemerkt, dass 90 Prozent der Fragen, die er sich überlegt hatte, noch immer unbeantwortet waren, nach über fünf Stunden Recherche am lebenden Objekt! Aber bevor er loslegen konnte, hatte ich mein eigenen Blöckchen gezückt und fragte IHN weiter aus.

Er war der nette Hamburger. Sehr gut erzogen, dabei keineswegs devot, sondern von natürlicher Güte beseelt. Absolut uneitel. Mit dem schütteren Barthaar und den ungeschnittenen Locken konnte er auch Einsiedler in einem der späten Hamsun-Romane sein. Ich stellte ihn der scharfen Dominika vor, immerhin die Vorlage des Comic-Mädchens auf dem Umschlag von „Die Jugend von heute“. Die Kids erlösten mich, wie immer. In der radikal durchhomosexualisierten Jugend fand der nette Hamburger sogleich seinen Platz. Die Homies mochten ihn total. Elias strahlte mich an: „Jolo, dieser Thomas, dieser Journalist, ist ja VOLL NETT! Der schreibt garantiert gut über dich! Der kommt noch mit zur Universal-Party...“ Und so kam es. Wir dampften durch die Hauptstadt, von Party zu Party. Der Typ trank immer noch Coca Cola. Er hatte Angst, die Fakten, Fakten, Fakten für sein so genanntes Feature wieder zu vergessen. Manchmal schaffte er es, inzwischen in einem richtig schlechten Club, neben mir zu stehen und den Sekretärinnen und Nutten auf dem dancefloor zuzusehen. Er bemerkte nicht, dass ich gerade für mein nächstes Buch „Elend im Kapitalismus“ recherchierte. Dann kamen wieder Fragen.

„Warum hat Kiepenheuer & Witsch zehn Jahre lang Ihre Romane unterdrückt?“ – „Reporterfrage, gestrichen.“ – „Ach ja, Entschuldigung... schöne Frauen hier...“ – „Keineswegs.“ Er erschrak über meine Reaktion. „Nanu – plötzlich kein Interesse mehr an fetten Bräuten?“ – „Es gibt nichts, was mich weniger interessiert als fette Bräute. Ich bin seit 16 Jahren mit derselben Frau zusammen, und sie gefällt mir jeden Tag besser.“ – „Sagen Sie mal, warum sind Sie eigentlich das Schwarze Schaf im Literaturbetrieb?“

Älteren Leuten gab ich schon gar keine Interviews mehr, die kamen ihren Lebtag nicht mehr aus ihrer Entweder-Oder-Haltung heraus. Letzte Woche war ein Opa von der Neuen Zürcher Zeitung da, dem hatte ich ins Ohr geschrieen, es gebe hundert Wahrheiten gleichzeitig. Tags darauf lagen meinem Verlag schriftliche Anfragen über mich vor. All die buchhälterischen Infos über mich musste dann der arme Helge Malchow zu Papier bringen: Auflage, familiärer Hintergrund, Sternzeichen, literarische Präferenzen, literaturpolitische Positionierung und so weiter. Später hatte der dann diese Angaben gegen meine gestellt und die Differenz als große verdienstvolle Enthüllungsgeschichte verkauft, und zwar an mehrere Zeitungen auf einmal. Was für ein wunderbarer, großer Journalist er doch war! Er hatte seinen Beruf ganz und gar ausgefüllt! Sein vertrocknetes Zeitungshirn blähte sich vor Stolz... Da war dieser Smutje von der Hamburger WamS hier schon anders. Zwischendurch hingen wir dann alle wieder im Starbuck’s ab, weil Julia II und Joshua plötzlich einen Mörderappetit auf Carot Cake with Whipped Cream and hot Chocolate hatten. David hatte das junge Mädchen in hellgrauer Stoffhose und mit Sharon-Stone-Nase aufgestellt. Wir schlürften unsere dekadenten US-amerikanischen Heißwassergetränke und sahen durch die wandhohe Verglasung nach draußen auf den Hackeschen Markt. Ich tippte Thomas (so hieß der Reporter) an: „Da, guck! Sogar hier sind sie, die Rentner. 70-jährige mit Rennrad und Marken-Rucksack!“ Der weißhaarige Alte trug einen Army-Bürstenschnitt und eine noch weißere Rainald-Goetz-Techno-Jacke. Auf einmal erkannte ich ihn: Es WAR Rainald Goetz!! Ich schrie: „Schreib das auf, Lindemann! Rainald Goetz, vor unseren Augen! Das muss Schirrmacher lesen!“

Als es hell wurde, gingen wir die Spree entlang, und das war sehr schön. Die Homies sangen alte Chart-Hits vom letzten Sommer. Blind lief der Schreiberling neben ihnen her und sah nichts, aber ich mailte ihm meine Digicam-Fotos tags darauf auf seinen Computer, so dass er sie als Erinnerungsstütze beim Schreiben verwenden konnte.

So wurde sein „Feature“ auch gar nicht schlecht. Es war sogar richtig gut! Sagte ich GUT? Es war wasserfester, reinster, bester Pop! So wie ich mir zehn Jahre lang den Journalismus gewünscht hatte! Zitternd vor Glück und Überraschung hielt ich die WamS in den Händen. Er hatte alles aufgeschrieben. Kein Raisonnieren, nur das Leben selbst. Die pure action. Die Bräute, der Autor, die ganze Nacht. Titel: „Ein Nachtleben namens Deutschland“. Keine Reporterfrage mehr, nur noch beschreibender Feinschliff. Eine Rodinskulptur aus Worten... Der Junge hatte alles umgesetzt, alles verstanden! Ich war Rousseau und er Candide! Oder umgekehrt. Natürlich konnten die Homies die Zeitung in dieser Form nicht lesen (sie kannten keine Papierzeitungen und hätten den Artikel niemals gefunden), aber ich lud ihn als Datei auf mein i-book und mailte ihn dem Neffen und seinen Leuten. Die behandeln ihn nun als Freund, was für einen echten netten Hamburger stets mehr zählt als die öffentliche Meinung.

Joachim Lottmann, Jahrgang 1956, lebt in Berlin und Köln. Soeben erschien sein Roman: „Die Jugend von heute“, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 319 Seiten, 8,90 €.

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