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SCHREIB Waren: Europäer, du musst wandern

Steffen Richter fordert Ehrlichkeit beim Thema Migration. Deutschland sollte endlich erkennen, dass es ein Einwanderungsland ist. Willkommen in der Wirklichkeit.

Was in den Vereinigten Staaten geschehen ist, lässt sich als Angleichung eines Selbstbilds an die Realität beschreiben. Mit den Worten des amerikanischen Schriftstellers James Baldwin: „Wenn wir weiterhin auf dem Selbstbild einer weißen Nation beharren, obwohl wir das nicht einmal annähernd sind, dann verurteilen wir uns selbst zu Sterilität und Verfall.“ Barack Obama als Präsident hieße also: Willkommen in der Wirklichkeit.

Ein solcher Realitätsabgleich kommt bei uns nur langsam in Gang. Hier nämlich hat man seit den 1950er Jahren ausländische Arbeitskräfte ins Land geholt und dann jahrzehntelang so getan, als gäbe es sie nicht. Viele der „Gastarbeiter“ sind geblieben und haben die deutsche Gesellschaft gründlich verändert. Die allerdings wollte davon lange keine Kenntnis nehmen. Diese Ignoranz ist eine Form von Verblendung.

Das Gegenstück dieser Verblendung besteht in der Auffassung, es sei doch alles schön bunt und laufe prima! Tut es nicht, sagt der niederländische Soziologe Paul Scheffer. Mehr noch: Die Gesellschaft sei durch Migration nicht offener geworden. „In Europa“, meint Scheffer, „steht die Toleranz unter Druck.“ Migration sei oft eine Bewegung vom Land in die Stadt, aus konservativen in liberale Milieus. Das hat zur Folge, dass in Europa allen Ernstes wieder über Themen wie die Stellung der Frau, das Recht auf freie Meinungsäußerung oder den Abfall vom Glauben diskutiert wird. Es wäre wohl kaum ein Fortschritt, merkt Scheffer sarkastisch an, wenn wir heute die Emanzipation von vor 50 Jahren wiederholen. Dennoch geht es ihm in seinem Buch über Die Eingewanderten (Hanser) gerade nicht um Schuldzuweisungen, sondern um einen nüchternen Blick auf die große Völkerwanderung der Gegenwart. Seine klarsichtige, weit in die Geschichte der Migration ausgreifende Studie stellt er am heutigen Dienstag (18.30 Uhr) in der Friedrich-Ebert-Stiftung vor (Hiroshimastr. 17, Tiergarten).

Zur in Bewegung geratenen Welt gehören natürlich auch „Literaturen ohne festen Wohnsitz“, wie sie der Potsdamer Romanist Ottmar Ette nennt. Wie die aussehen, lässt sich beim erstmals stattfindenden Karneval der Literaturen erleben. Bis zum 20. 11. lesen in der Kreuzberger Lettrétage (Methfesselstr. 23-25) allabendlich (20 Uhr) Autoren aus 16 Ländern von Portugal über die Türkei bis Thailand – etwa Abbas Khider aus dem Irak, Kiran Nagarkar aus Indien und Apti Bisultanov aus Tschetschenien (Programm unter www.lettretage.de).

Dabei soll es vor allem um literarische Blicke aus dem fremden Land auf den Ort der Herkunft gehen, um die Frage also, in welchem Maße das Fremde längst Eigenes und das ehemals Eigene fremd geworden ist. Ist Ortlosigkeit vielleicht die unumgängliche Konsequenz? Doch Migration bedeutet nicht nur Unsicherheit aufseiten der Eingewanderten. Auch den Eingesessenen schwankt im Kontakt mit Zugewanderten der Boden unter den Füßen. Sich diese Unsicherheit einzugestehen, wäre zumindest ein Schritt beim Abgleich zwischen Realität und Selbstbild.

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