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SCHREIB Waren: Expedition in die Allwissenheit

Steffen Richter sucht das Politische in der Gegenwartsliteratur

Die feuilletonistische Trendforschung hat entdeckt, dass der letzte Schrei in Sachen Literatur mal wieder Politik heißt. Nun ist dieser Begriff ein dehnbares Ding. Wo manche nur eine Parlamentsdebatte als Politik gelten lassen, halten andere „Anne Will“ für etwas Politisches. Und Dritte glauben mit Proust, schon literarischer Stil sei eine Frage der Weltsicht und also politisch.

Bei dieser Verwirrung ist es kein Wunder, dass schnell eine Minidebatte entbrennt. Der Kritiker Helmut Böttiger hatte letzte Woche in der „Süddeutschen Zeitung“ die vermeintlich politischen Romane der Saison gewogen – und meist für ziemlich leicht befunden. Politische Stoffe seien oft nur eine Notlösung, weil alle anderen (Pubertät, Generation, Familiengeschichte) einfach „durch“ seien. Von einer Verbindung von Stoff und Form, einem Einzug des Politischen in die Ästhetik könne aber kaum die Rede sein. Stattdessen würden die Stoffe nur mit sprachlichen Politklischees illustriert. Einer der Geschmähten, Georg M. Oswald, antwortete am selben Ort flugs mit einem flammenden Plädoyer für allwissende Erzähler. Nur kann die Perspektive von sehr hoch oben durchaus aufklärerisches, aber auch nur ironisches oder gar Bevormundungspotenzial besitzen. Das Gespräch über politische Literatur ist tatsächlich nicht ganz einfach.

Ob es aber wirklich so schlimm um die Gegenwartsliteratur bestellt ist, kann man in den kommenden Tagen prüfen. Etwa mit Michael Kumpfmüllers Roman Nachricht an alle (Kiepenheuer & Witsch). Protagonist ist ein Innenminister, dessen Tochter bei einem Flugzeugabsturz umkommt, der eine Affäre mit einer jungen Journalistin beginnt und sich ansonsten zwischen Terrorgefahr, dem Druck der Vorstädte und den Medien zerreibt. Am 8.5. (20 Uhr) liest Kumpfmüller im Brecht-Haus (Chausseestr.125, Mitte)

Der eigentlich als Theaterautor bekannte Schweizer Lukas Bärfuss versetzt einen Entwicklungshelfer ins Jahr 1994 und mitten in den Völkermord an den Tutsi in Ruanda. Das klingt, als hätte es mit uns nichts zu tun. Aber wie schnell vergisst man, dass Ruanda bis zum Ersten Weltkrieg Teil von Deutsch-Ostafrika war. Bärfuss liest heute (20 Uhr) im Münzsalon (Münzstraße 23, Mitte) aus seinem ersten Roman Hundert Tage (Kritik s. Tagesspiegel vom 5.5.). Mit Antjie Krog bleiben wir auf dem Kontinent, von dem wir oft sehr wenig wissen und ihn deshalb mit umso unbedarfteren Klischees ausstatten. Die weiße Südafrikanerin Krog ist nicht nur Lyrikerin, sie berichtete auch als Journalistin über die Arbeit der Wahrheits- und Versöhnungskommission nach dem Ende der Apartheid. Heute (20 Uhr) spricht sie mit ihrer deutschen Kollegin Ulrike Draesner darüber, dass der Zusammenhang von Politik und Literatur für sie unumgehbar ist. Und vor allem: welche Formen er annimmt (Literaturwerkstatt, Knaackstr. 97, Prenzlauer Berg). Denn vielleicht ist Politik in der Literatur tatsächlich eher eine Frage des Stils als des Stoffs. Wo die Perspektive verrutscht und die Semantik explodiert, entstehen zumindest meist die besseren Romane.

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