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SCHREIB Waren: Die Stadt als Alphabet

Wer glaubt, endlich den Jubiläumsmarathon in Sachen „68“ absolviert zu haben, sollte sich nicht zu früh freuen. Zwar ist „68“ vorbei, „89“ aber steht vor der Tür.

Wer glaubt, endlich den Jubiläumsmarathon in Sachen „68“ absolviert zu haben, sollte sich nicht zu früh freuen. Zwar ist „68“ vorbei, „89“ aber steht vor der Tür. Allerdings, es gibt Unterschiede: Während man sich in Ostdeutschland erst mal ein eigenes „68“ basteln musste, dürfte das Mauerfalldatum tatsächlich ein Erinnerungstag für alle werden – für die Menschen zwischen Emden und Zwickau, um mit Max Goldt zu reden. Im Zentrum der Gedenk-Events wird aber selbstverständlich Berlin stehen.

Dass das Thema Berlin kurz vor der Wiedervereinigung eine Leerstelle in der Gegenwartsliteratur war, kann sich heu te kaum noch jemand vorstellen. „Döblin, dringend gesucht“ wurde damals lamentiert. Einen allerdings hat man dabei oft übersehen. Es gibt wohl keinen Autor, der in den achtziger und neunziger Jahren ein besseres Gespür für die Schwingungen der westlichen Halbstadt hatte, als Bodo Morshäuser, den kritischen Stadtschreiber West-Berlins.

Kaum einer hat wie er die unwirklichen Revolten unter der Käseglocke der westdeutschen Berlin-Subventionen ergründet und die Selbstbilder der Stadt („Frontstadt“, „Schaufenster des Westens“, „Hauptstadt“) zerlegt. Für Ost-Berlin, speziell den Prenzlauer Berg, war Peter Wawerzinek ähnlich wichtig. Doch als nach der Wiedervereinigung eine ganze Schriftstellergeneration Berlin als Schauplatz entdeckte, war die Stadt für Morshäuser offenbar „ausgeschrieben“, Wawerzinek zog erst mal aufs Land. Dann, fünfzehn Jahre nach dem Mauerfall, war man froh über jeden Roman, der nicht in Mitte oder Kreuzberg spielte. Und heute, zwanzig Jahre danach, scheint eine gewisse Normalität eingezogen zu sein. Berlin hat aufgehört, sich um sich selbst zu drehen. Aber es produziert so viel Literatur, wie es sich für eine europäische Hauptstadt gehört.

Außerdem gibt es immer wieder Zugezogene, die sich die Stadt neu zu erklären versuchen. René Hamann, Jahrgang 1971, zum Beispiel. Er hat sich sein Berlin nach einem schlichten Ordnungssystem sortiert: „Das Alphabet der Stadt“, erschienen im Verbrecher Verlag, versammelt Flaneurtexte, die zuerst in der „Taz“ publiziert wurden. Von Adlershof (A) geht es über Charlottenburg (C) bis Zehlendorf (Z). Vielleicht ist das Alphabet sogar das demokratischste Raster, um verschiedene, manchmal gegensätzliche Aspekte der Stadt in den Griff zu bekommen: „Bulette“ könnte da neben „Bundesdruckerei“ stehen oder „Kulturforum“ neben „Kotti“. Ganz in der Nähe vom Kottbusser Tor, in der Monarch-Bar (Skalitzer Str. 134, Kreuzberg), trägt Hamann jedenfalls am heutigen Dienstag (20 Uhr 30) aus seinem Buch vor.

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