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SCHREIB Waren: Stadt der Engel und Leser

Sagen wir es einmal klipp und klar: Berlin hat den großartigsten, vielfältigsten, in jeder Hinsicht attraktivsten Lesebetrieb der Bundesrepublik. Es ist ein alter Topos, dass es hier alles gibt – und von allem auch das Gegenteil: Nobelpreisträger und Debütanten, hoch artistische Höhenkamm-Lyrik und wilde, programmatisch kunstfreie Fantasy-Crime-Gothic-Mixturen.

Sagen wir es einmal klipp und klar: Berlin hat den großartigsten, vielfältigsten, in jeder Hinsicht attraktivsten Lesebetrieb der Bundesrepublik. Es ist ein alter Topos, dass es hier alles gibt – und von allem auch das Gegenteil: Nobelpreisträger und Debütanten, hoch artistische Höhenkamm-Lyrik und wilde, programmatisch kunstfreie Fantasy-Crime-Gothic-Mixturen. Man trifft Lokalpossenschreiber aus dem Wedding ebenso wie die internationale Avantgarde aus New York oder Paris. Mal lustwandelt man im Literarischen Colloquium am Wannsee, mal zieht man durch verrauchte Neuköllner Kneipen – gelesen wird überall. Diesen wunderbaren Berliner Lesebetrieb gibt es etwa 360 Tage im Jahr. Dann kommt die Woche zwischen Weihnachten und Neujahr. Dann läuft fast gar nichts mehr.

Das halbverdaute Festtagsgeflügel im Magen, geben diese aus der Zeit gefallenen Tage „zwischen den Jahren“ also die Möglichkeit, innezuhalten, das Hirn zu lüften und voller Erwartung nach vorn zu schauen. Worauf sollten wir uns im nächsten Jahr gefasst machen? Im Osten wird die literarische Landschaft – ganz gegen den regionalen Trend – vermutlich weiterhin blühen. Auch wenn die DDR als Abenteuerspielplatz à la Brussig nun hoffentlich auserzählt ist. Vielleicht aber wagt man den Blick auf eine Autorin, die vor zwanzig Jahren vorschnell verabschiedet worden war: Im 60. Suhrkamp-Programm jedenfalls steht „Stadt der Engel“, ein neues Buch von Christa Wolf, ganz oben. Doch auch im Westen dürfte einiges los sein. Mit Uwe Timm wird im März einer der produktivsten und am meisten gelesenen deutschen Autoren siebzig. Und Klaus Wagenbach, die Inkarnation einer ganz besonderen Bundesrepublik, feiert im Sommer seinen achtzigsten Geburtstag. Noch weiter im Westen präsentiert sich eine Region, die lange unter kulturellen Minderwertigkeitskomplexen gelitten hat, als europäische Kulturhauptstadt. „Essen für das Ruhrgebiet“ – vor dreißig Jahren wäre das noch ein Jux gewesen. Heute kann man sich mit der brandneuen Anthologie „Ruhrbuch. Das Ruhrgebiet literarisch“ über das literarische Potenzial der Gegend informieren. Und ganz weit im Westen wartet mit Mark Twains 100. Todestag ein weiteres Jubiläum.

Was noch? Natürlich muss man in Berlin diese wunderliche Woche nicht nur Däumchen drehend vor dem Fernseher verbringen. Am 30.12. (20 Uhr) gibt es immerhin die Stadtmeisterschaften im Poetry Slam in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Der Lesewettbewerb der immer gutgelaunten Spokenword-Szene eignet sich erfahrungsgemäß hervorragend, um für die Silvesterparty auf Touren zu kommen.

Und noch was? Ach ja: Vor genau sechs Jahren durfte ich erstmals an dieser Stelle durch den großartigsten, vielfältigsten und in jeder Hinsicht attraktivsten Lesebetrieb der Bundesrepublik führen. Mein erster Tipp galt damals einem Buch über die Faulheit. Nun ist es Zeit, die guten Ratschläge selbst zu befolgen. Nach etwa eintausend Empfehlungen für Veranstaltungen und Bücher ist jetzt Schluss. Dank sei allen aufmerksamen Lesern und unermüdlichen Veranstaltungsmachern! Von nächster Woche an schaue ich dann, wie es ist, die „Schreibwaren“ zu lesen, anstatt sie zu schreiben.

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