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Kultur: Schwebend

Haitink dirigiert Bruckner bei den Philharmonikern

Schwereloser kann das nicht beginnen, dichter auch nicht. Was physikalisch paradox wäre, diesem Orchester gelingt es. 60 Streicher spielen den Beginn von Bruckners Fünfter wie schwebendes Land, ungreifbar und real zugleich, und so, wie der Mann am Pult den Klang sich entfalten lässt, ist es nicht mal ein Beginn, dem etwas folgen muss. Man könnte die 14 Takte für sich stehen und schweben lassen und ihnen eine Weile nachlauschen.

Bernard Haitink, der weise Holländer, ist mit seinen 82 Jahren in jenem Alter, in dem Dirigenten bei Bruckner oft zu den entfernteren Horizonten gelangen. Das ist bei der Fünften besonders nötig, die in aller Klarheit weglos erscheint. Eben darum hat man dem Fortissimoausbruch in Takt 15 das Etikett „Weckruf“ angeheftet, das unter Haitinks ruhigen Händen abfällt wie ein alter Post-it-Zettel. Und doch ist es nicht einfach Abstraktion, was die Berliner Philharmoniker realisieren. Sie bringen den ersten Satz in einen Bereich zwischen Material und Metaphysik, der eben nicht bequeme Mitte ist. Die intensiv gespielten Gegensätze liefern uns einer Spannung aus, die von keinem Spannungsbogen erklärt oder verklärt wird. Haitink lässt gelassen geschehen, was auf uns zukommt. So ist die federnde Wucht, mit der das Orchester ein Unisono spielt, erst recht unheimlich.

Etwas ganz anderes geschieht im Adagio. Der Gesang der Streicher ist direkt, geradezu naiv. Ungeschützt vertrauen sie der Philharmonie Bruckners ausgreifende Sehnsucht an, auf einmal kommt uns da einer entgegen, den Haitink auch später sucht, wenn er sich hinter weite Bögen der Bläser zurückgezogen hat, hinter Ranken von Geigensextolen. Zugleich gibt es eine Ebene organischer Entfaltung, die etwa die unablässigen Drei-Achtel-Bindungen der Bässe nie statisch wirken lässt. Danach ist das Scherzo ein eigentümlich leer laufender, unfokussierter Satz.

Im Finale hat er einen Pausentakt verschwinden lassen, umso eher kommen die sprechenden Einwürfe des Soloklarinettisten. Sie zeigen eine menschliche Dimension, die dann in gigantischen kontrapunktischen Versuchsfeldern und Choralfelsen verschwindet. Natürlich ist es ein Vergnügen, einem so perfekten Orchester dabei zuzuhören, aber hier fehlt etwas. Das Filigran atomisierter Themen könnte man sich materialhafter denken, ausgetrockneter. Hier ist es nur „schön“, während den insistierenden Rhythmen der Bläser vor der Choralfuge der letzte Kick zum Wahnsinn fehlt. Auch wenn Haitink weiter blicken mag – am Ende verliert sich sein Horizont in einer orchestralen Leistungsschau. Volker Hagedorn

Volker Hagedorn

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