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Kultur: Segel setzen

Ein Traum von einem Konzert: Jeanne Balibar singt im Berliner Roten Salon

Von Gregor Dotzauer

Sie legten ab, als die Nacht am tiefsten war. Der Himmel im Roten Salon der Volksbühne wurde weit, ihm entgegen streckte sich das Meer, und die Ankerwinde ächzte, bis ein schwerer Luftzug alle Schiffsgeräusche übertönte. Wir standen am Ufer, zu schwach zum Winken und zu schwach zum Weinen, und mussten ertragen, wie Jeanne Balibar und ihre Männer entglitten. Rodolphe, der Kapitän, hatte seine Gitarre umgehängt und jagte mürrisch Strom in die Segel, sein Schlagzeuger verschwand sofort im Maschinenraum, nur der Bassist wagte einen letzten freundlichen Blick zurück.

Sie aber stand am Bug, die Schultern in Richtung Horizont gebeugt, und sang mit geschlossenen Augen „Le Tour Du Monde“. Je weiter sie sich entfernte, desto besser konnten wir sie hören, und je mehr das Dunkel sie umfing, desto klarer konnten wir sie sehen. Arme und Beine waren mit Schriftzeichen übersät, ganze Sätze verzierten ihre Haut. Und wenn wir genau hinsahen, erkannten wir Sätze aus Büchern von Jules Verne.

Jeanne Balibar hatte sie schon am Abend zuvor in den Sophiensälen am Leib getragen, als sie mit ihrem Schauspielerkollegen Martin Wuttke in die Südsee, nach „Mikronesien“, gereist war. Pierre Alferi hatte für die Performance exotische Bildunterschriften aus Vernes Romanen gesammelt, die die beiden wieder auseinanderpflückten. Da war die 37-jährige Pariserin noch ganz Schauspielerin, nah und unnahbar wie in den Filmen von Jacques Rivette („Va savoir“), Olivier Assayas („Clean“) oder Arnaud Desplechin („Comment je me suis disputé – ma vie sexuelle“).

So aber, wie sie jetzt als Sängerin außerhalb ihrer Hoheitsgebiete die Arme in die Höhe reckte, war sie eine lange, dürre Königin der Nacht, die zu einer Weltumrundung über alle Ozeane aufgebrochen war. Je voudrais faire le tour du monde, sang sie, par les Indes, le Pacifique/le Bosphore et les Amériques/retrouver quelques personnages / morts à mon age.

Eine Traurigkeit, die größer war als sie, zog ihr die Töne auseinander, die Zeit trat auf der Stelle, und eine unentschiedene Sekunde lang schien sie vor dem erklärten Ziel ihrer Reise, der Wiederbegegnung mit jung gestorbenen Menschen, zurückzuscheuen. Vielleicht begriff sie, dass wir die wahren Toten waren, zu denen sie hätte zurückkehren müssen: leidenschaftslos, wie wir waren, unfähig, ihr zu geben, wonach sie sich sehnte.

Einmal, auf dem Cover ihres Albums „Paramour“, hatten wir die Landkarte eines fremden, von ihr erträumten Landes gefunden. Die Häuser waren weit verstreut und trugen Namen wie Regards langoureux (Schmachtende Blicke), Attente (Warten), Torture (Folter), Amant officiel (offizieller Liebhaber) oder Soupçon (Verdacht). Selbst das darauf verzeichnete Unglück muss ihr verheißungsvoller erschienen sein als unser Dahinvegetieren. Rodolphe, der Kapitän, rauchte eine Zigarette nach der anderen. Um genau zu sein: Sie klebte ihm im Mundwinkel, und er versuchte, seine Nase aus dem Rauch zu halten, indem er zwischendurch daran zog. Er hat Chansons von Serge Gainsbourg gehört, raunten sich einige unter uns zu, das hat ihm das Leben gerettet! Sie erinnerten sich noch an eine Zeit, in der es viele verschiedene Töne gab bei uns, ein Popschweben und Jazzflimmern, wie Rodolphe es gerade wieder beschwor und seinen Kurs hielt, der hieß: Nur weg von uns, weg von diesem Elend.

Auch Jeanne rauchte. Sie war jetzt weit weg, weiter als zuvor, und wir schienen sie nun doch aus den Augen zu verlieren. Die Handgelenke zitterten ihr, immer wieder fuhr ihr die Unruhe bis ins Bein hinunter. Sie schüttelte es dann aus, vielleicht schüttelte sie damit uns ab, um im nächsten Moment wieder vorn am Bug zu stehen und ein weiteres ihrer Lieder zu singen. Manchmal flüsterte und sprach sie auch. Ein Ach und Weh trieb um sie her, hélas! hauchte sie auf Französisch und auf Englisch alas! Après ceux qui espèrent, holà / ceux qui vont vers le pire – nach der Liebeshoffnung das Verderben. Dann aber schien sie etwas gefunden zu haben: après tout, apres quoi / il y a toi. Eine Liebeserklärung an jemanden, den wir uns beim besten Willen nicht vorstellen konnten. Sie wiederholte es, Refrain um Refrain, als müsste sie sich selber überzeugen.

Jeanne und ihre Männer legten an, als die Nacht am tiefsten war. Der Himmel stürzte sich mit seinem ganzen Gewicht auf uns, obwohl uns jetzt leichter ums Herz war. Als wir die Augen aufschlugen, war niemand mehr zu sehen.

Die französische Schauspielerin Jeanne Balibar hat unter dem Titel „Paramour“ (Dernière Bande/Wagram) ein Album mit Kompositionen des Gitarristen Rodolphe Burger aufgenommen. Die zitierten Liedtexte stammen von dem Schriftsteller Pierre Alferi. Das Berliner Arsenal widmet Balibar noch bis 18. Juni eine Filmreihe.

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