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Kultur: Sehnsucht nach dem Meister

Es muss im späten Winter 1988/89 gewesen sein, als wir uns auf die Reise machten. Zu einer Zeit, als die Kartoffeln, wie Arno Schmidt sagen würde, im Westen Mädchennamen hatten, in der DDR Vögel.

Es muss im späten Winter 1988/89 gewesen sein, als wir uns auf die Reise machten. Zu einer Zeit, als die Kartoffeln, wie Arno Schmidt sagen würde, im Westen Mädchennamen hatten, in der DDR Vögel. Als die Mauer noch stand. Und das Haus am Ortsrand von Bargfeld, Kreis Celle. Hier, zurückgezogen in der „Lüneburger Haide“, lebte gut 20 Jahre lang einer der faszinierendsten Schriftsteller der deutschen Literatur. Ein wegen seines Gebrauchs von verschlüsselten Bemerkungen, Anspielungen und Zitaten sowie gewöhnungsbedürftiger Orthografie für viele Unlesbarer, ähnlich wie James Joyce. Für uns, Studenten der Linguistik und Literaturwissenschaft im nahen Braunschweig und Möchtegern-Dechiffrierer des 1300 DIN-A3-Seiten dicken Werks „Zettel’s Traum“, war das nicht so.

Für uns war Arno Schmidt eine Legende, zehn Jahr nach seinem Tod. Die Existenz des Heimatvertriebenen hatte im Heidedorf nahezu fantastische Züge angenommen. Bargfeld, ein Sehnsuchtsort. Also rein in den Opel Nissan, „Doppelglas“ eingesteckt, auf in die Heide, in das bisschen Welt, dem der Schriftsteller so ungeheure Literatur abgerungen hat. Den Erzählband „Kühe in Halbtrauer“ in der Hand schritten wir – möglichst mit „Forstaufseherblick“ – Äcker, Teiche, Dorfrodungen, Feldränder und Telegrafenmaste ab, wie der Meister bei seinen Spaziergängen auf der Suche nach „Modellfichten“ und „Kiefernfransen“. Oder „fernen Schnitterinnen“, denen er mit dem „Sehrohr“ unter die Röcke gucken konnte. Wir warfen einen Blick aufs bescheidene hexenhafte, schon leicht verrottete Haus mit Veranda und Wasserpumpe, ikonografisch nicht weit weg von Thoreaus Hütte am Walden Pond. Wir hockten auf einer Bank, tranken Dosenbier, überlegten uns eine Strategie des wohlinszenierten, coolen Außenseitertums und rätselten, ob Schmidts geduldige Frau Alice hier draußen wirklich glücklich war neben dem Kauz. Kein Dorfältester in Sicht, der uns hätte erzählen können, wie Arno Schmidt mal daherging. Wie es immer so ist mit Sehnsuchtsorten: Ein bissen ernüchternd war diese Pilgerreise auch. Am heutigen Samstag wird Arno Schmidt 100 Jahre alt (Tagesspiegel vom 12.1.). Darauf ein Beck’s.

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