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Gipfel der Aufklärung. Sherlock Holmes (Benedict Cumberbatch, rechts) und Dr. Watson (Martin Freeman) in der Fernsehserie „Sherlock“.

© ARD Degeto/BBC/Hartwood Films 20

Sherlock Holmes: Mein Geist ist eine Maschine

Eine brillante BBC-Serie, Kinofilme, neue Romane und sogar Computerspiele: Sherlock Holmes lebt. Er ist der Denker der Stunde.

Ein kleiner Schritt nur und alles ist vorbei. Sherlock Holmes steht auf einem Bürohausdach in der Londoner City, vor ihm der Abgrund. „Fallen ist wie fliegen“, hat ihm sein Widersacher Moriarty gesagt. „Mit dem Unterschied: Es gibt ein verbindliches Ziel.“ Holmes hebt die Arme wie ein Turmspringer bei den Olympischen Spielen, tritt auf die Zehenspitzen und lässt sich fallen. Mit dem Showdown über den Dächern von London endet „Der Reichenbachfall“, Abschluss der zweiten Staffel der großartigen BBC-Serie „Sherlock“, den die ARD am Pfingstmontag ausstrahlt. Aber kann, darf Sherlock Holmes sterben?

„Killed Holmes“, notierte Arthur Conan Doyle im Dezember 1893 zufrieden in seinem Tagebuch. Der Schriftsteller war seiner Kreatur seit langem überdrüssig. Nun hatte er die Kurzgeschichte „Das letzte Problem“ vollendet, in der er Sherlock Holmes in den Reichenbachfällen unweit des Schweizer Städtchens Meiringen sterben ließ, gemeinsam mit dem „Napoleon des Verbrechens“, Professor Moriarty, vereinigt in einem tödlichen Handgemenge, „einer den anderen umklammert haltend“. „Dort, tief unten in jenem schrecklichen Kessel voll wirbelndem Wasser und brodelndem Schaum, werden sie für alle Zeiten ruhen: der gefährlichste Verbrecher einer Generation und ihr vornehmster Streiter für das Recht.“

Für alle Zeiten? Genial ist „Sherlock“ gerade deshalb, weil es der BBC-Serie gelingt, den Geist von Doyles Geschichten aus dem 19. Jahrhundert unbeschadet in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts zu versetzen. Holmes’ Eckermann Dr. Watson (Martin Freeman) stellt jetzt als Blogger die Abenteuer des Kompagnons online, und der Meisterdetektiv (Benedict Cumberbatch) hantiert virtuos mit Smartphone, iPad und Skype. Digitale Kurzbotschaften rasen durchs Bild, das Labor des Superhirns im St. Bartholomew’s Hospital ist vollgestopft mit Highendtechnologie. Aber in den Details bleiben die viktorianischen Ursprünge erkennbar. Im Dartmoor bei Baskerville gehen mörderische Hunde um. Watson ist ein kriegsversehrter Afghanistan-Veteran. Und Holmes ein beziehungsunfähiger Soziopath, der seine Emotionen allenfalls beim Violinenspiel herauslassen kann. „Gefühle sind ein chemischer Defekt, die auf der Verliererseite zu finden sind“, sagt er. Natürlich wird der neurotische Fahnder wiederauferstehen. Eine dritte „Sherlock“-Staffel ist in Planung.

Sherlock Holmes ist unsterblich. Der „hakennasige, schlaksige und recht liebenswerte Privatdetektiv“ (Vladimir Nabokov) gehört, ähnlich wie Robinson Crusoe, Don Quijote oder Ivanhoe, zu den Figuren der Weltliteratur, deren Ruhm ihre Schöpfer überstrahlt und die längst ein autonomes Leben entwickelt haben. In der Londoner Baker Street 221b ist ein Sherlock-Holmes-Museum eingerichtet, das mit dem gemütlich knisternden Kamin und Memorabilien wie Holmes’ Opiumpfeife und seiner Geige den Eindruck erweckt, als sei der Bewohner nur mal eben auf einen Sprung verschwunden. 700 Briefe treffen hier jährlich aus aller Welt ein, in denen der Detektiv um kriminologischen Rat gefragt wird.

Noch zu Lebzeiten von Arthur Conan Doyle ist die Geschichte seines Helden von anderen Autoren fortgeschrieben worden. Der französische Kriminalschriftsteller Maurice Leblanc ließ den von ihm kreierten Meisterdieb Arsène Lupin bereits 1905 über einen kauzigen englischen Ermittler triumphieren, den er aus Gründen des Urheberschutzes „Herlock Sholmes“ nannte. Doch gerade in den letzten Jahren erlebt Sherlock Holmes eine bemerkenswerte multimediale Renaissance. Er agiert in Computerspielen wie „Sherlock Holmes jagt Jack the Ripper“ und in perfekt Doyles altväterlichen Tonfall imitierenden Romanen wie „Das Geheimnis des weißen Bandes“ des britischen Bestsellerschreibers Anthony Horowitz, der auch den Beifall der Sherlock Holmes Society fand.

Fürs Kino war der Detektiv wie geschaffen. Der erste Holmes-Film wurde 1908 vom dänischen Stummfilmpionier Viggo Larsen gedreht. Es folgten Dutzende von weiteren Verfilmungen, darunter die Klassiker mit Basil Rathbone, der in den dreißiger und vierziger Jahren gegen Moriarty und die Nazis kämpfte und dabei mit Pfeife und Deerstalker-Mütze das Bild des Gerechtigkeitsfanatikers bis heute prägte. Zuletzt waren Robert Downey Jr. und Jude Law als Sherlock Holmes und Dr. Watson zu sehen, in zwei Actionspektakeln, in denen so viel geschossen, geprügelt und gewitzelt wird, dass sie eher wie Reinkarnationen von Bud Spencer und Terence Hill wirken. Teil zwei, „Sherlock Holmes: Spiel im Schatten“, endete mit einem von Holmes vereitelten Bombenattentat bei einer Internationalen Schweizer Friedenskonferenz und dem – vorläufigen – Tod des Helden in den Reichenbachfällen. Der nächste Film soll 2014 in die Lichtspielhäuser kommen.

Sherlock Holmes ist ein Systematiker des Denkens. Wenn er zu seinen Schlussfolgerungen, den berühmten „Deduktionen“, ansetzt, fügen sich winzigste Beobachtungspartikel zu schlüssigen Gesamtbildern. Im mit der Unbestechlichkeit einer Maschine arbeitende Verstand des Detektivs erreicht der Positivismus des 19. Jahrhunderts den Gipfel. Alle Phänomene der sichtbaren Welt, davon waren schon die Denker der Aufklärung überzeugt, lassen sich wissenschaftlich ergründen.

So wurde Holmes zum Vorläufer der heutigen Fernseh-Forensiker, die von „CSI“ bis zum Münsteraner „Tatort“-Pathologen Professor Boerne das Böse mit Lupe und Mikroskop bekämpfen. Was die Neugier des „größten Detektivs aller Zeiten“ (Doyle) antreibt, ist sein Lebensüberdruss. „Ich kann nicht leben ohne Arbeit für mein Hirn“, sagt er in „Das Zeichen der Vier“ zu Watson. „Wofür lohnt es sich sonst zu leben? Stellen Sie sich hierher, ans Fenster. Gab es je etwas Öderes, Trübseligeres, Unergiebigeres als diese Welt?“

Als Arthur Conan Doyle 1887 Sherlock Holmes erfand, orientierte er sich an dem Chirurgen Joseph Bell, bei dem er in Edinburgh Medizin studiert hatte. Bell besaß, wie Doyle in Interviews erzählte, ein Adlergesicht und eine phänomenale Aufmerksamkeit für Details. „Wenn er Detektiv gewesen wäre, hätte er diese unorganisierte Beschäftigung in etwas verwandelt, das einer exakten Wissenschaft nahekommt.“ In seinen Kriminalromanen sah Doyle nur einen Broterwerb, er hielt seine historischen Romane, die im Mittelalter oder unter den ersten Siedlern in Amerika spielten, für sein Hauptwerk. Dass er heute als „der Mann, der Sherlock Holmes schuf“ – so der Titel einer Biografie – erinnert wird, hätte ihn vermutlich betrübt.

„Killed Holmes“: Geradezu Mordlust ist zu spüren in Doyles Tagebucheintrag. 1893 trauerten Londoner Leser mit schwarzen Armbinden um Sherlock Holmes, die Auflage des Magazins „Strand“, in dem die Geschichten erschienen waren, brach ein. 1903 schrieb Doyle mit „Der Hund der Baskervilles“ doch wieder einen Holmes-Roman. Versüßt wurde ihm die Entscheidung mit einem gewaltigen Honorar: 100 britische Pfund für 1000 Wörter. Später ist Arthur Conan Doyle dann abgekommen vom Pfad des Rationalismus. Er veröffentlichte esoterische Schriften, trat als „Heiliger Paulus des Spiritismus“ vor tausenden Zuschauern auf und kommunizierte über einen Geist namens „Pheneas“ mit seinem toten Sohn. Den Untergang der Welt sagte er für 1927 voraus. Ein Ende, das Doyle um drei Jahre überlebte.

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