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Draußen! In der Londoner U-Bahn am Tag danach.

© dpa

Ein Brite in Berlin und seine Leiden: Sie werden es bereuen

Es tut weh: Mark Gisbourne versucht, den Brexit zu erklären.

Es bildet sich ein dicker Kloß im Hals und die Brust zieht sich zusammen, wenn Sie merken, dass Ihre Freunde einen schrecklichen Fehler begangen haben. Und das umso mehr, wenn es Ihre Landsleute sind. Allerdings wurde die Entscheidung für den Brexit nicht von den kulturellen und intellektuellen Kreisen Englands mitgetragen. London stimmte mit großer Mehrheit dagegen.

Für mich und viele andere ist dieser Wahlausgang eine persönliche kulturelle Katastrophe und ein Akt kurzsichtiger Ignoranz. Die kreative Beziehung zwischen Berlin und London, die mich nach Deutschland gebracht hat, wird durch dieses Ergebnis angegriffen und gehemmt; jedenfalls fühlt es sich jetzt so an.

Ohne Zweifel liegen die politischen Wurzeln des Brexit beim Thatcherismus, bei der berühmten Dame mit der schwingenden Handtasche und beim rechten Flügel der Konservativen Partei. Gemeinsame europäische kulturelle Identität? Diese Entscheidung bedeutet einen störrischen Rückzug in den Hurrapatriotismus und eine Little-England-Mentalität. Wahrscheinlich kommt es zur Trennung von Schottland und zum Zerfall des Vereinigten Königreichs, ironischerweise selbst verschuldet.

Aber was unterscheidet diese britische Inselnation kulturell so sehr von ihren europäischen Mitbürgern? Um ehrlich zu sein: Es ist ein Eiland mit einer ziemlich ungewöhnlichen Geschichte. Die einzige andere größere Insel, die einerseits einen internationalen Charakter hat und andererseits zur insularen Introspektion neigt, ist Japan. Aber dieser Vergleich erledigt sich auch wieder schnell, weil die Engländer immer noch mit sich selbst und ihrer Stellung in der Welt beschäftigt sind.

London ist im eigenen Land isoliert

Es wäre zu einfach zu sagen, dass Großbritannien nie den Verlust des Empire verwunden hat. Ende der vierziger Jahre, als ich geboren wurde, existierte es in einer bestimmten Form immer noch. Die britische Wesensart zeigt sich in einem kontroversen Politikverständnis, in der Kultur neigt sie zur Assimilation. Offenkundig revolutionäre politische oder kulturelle Trends werden schnell übernommen, korrumpiert und zum neuen Establishment. Man kann vom Ausverkauf sprechen. Von den Beatles zu Tracey Emin gibt es dafür in der Kunst und der Pop-Kultur unzählige Beispiele.

Die Brexit-Befürworter waren von zwei Motiven geleitet: der eigenen Regierung in den Hintern zu treten und die kulturellen europäischen Werte anzugreifen. Man erkennt hier deutlich den prinzipiellen Fehler und die Unvorhersehbarkeit von Volksabstimmungen. Bei solchen Referenden wird das eigentliche Thema herausgehoben und dazu benutzt, den jeweils Regierenden und ihrem Politikstil tüchtig eins auszuwischen.

Im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Literatur, der Kunst- und Musikszene Europas zeigt sich eine Abneigung der Briten gegen eine gemeinsame kulturelle Identität, die über das Britische hinausgeht. Künstlerische Bewegungen – als Bewegungen – haben es in Britannien immer schwer gehabt. Mit Ausnahme des Vortizismus, einer englischen Form des Futurismus zur Zeit des Ersten Weltkriegs, gab es in der angelsächsischen Kultur eigentlich nie irgendwelche „Ismen“. Briten misstrauen den Ideologien, die nach Theorie riechen. Das gilt für die Politik ebenso wie für die Kultur. Als empirisch geprägte Materialisten folgen sie eher ihren Sinnen als irgendwelchen Ideen. Das macht es jedem Wissenschaftler oder Kommentator so schwer, die wirklichen Motive für britisches Verhalten zu benennen.

London und Berlin verbindet eine starke Kunstszene. Aber London ist im Land relativ isoliert, abgesehen von kleineren kulturellen Communities in Glasgow, Edinburgh, Manchester und Leeds. Londons kulturelle Position ist derart dominant, dass man vom englischen kulturellen Leben ein völlig verzerrtes Bild gewinnt. Das kann auch der Grund für die überraschenden Ungenauigkeiten bei den Wahlumfragen sein, denn die meisten Umfrageinstitute sitzen in London.

Die populäre britische Kultur funktioniert nach den Prinzipien des Sports: gekleidet in theatralische Gegnerschaft und Rivalität. Das Fußballfeld ist ein kathartischer Raum, in dem die Fans sich artikulieren, oft genug gewaltsam. Unter ruhigeren Bedingungen bietet Cricket einer anderen sozialen Schicht die gleiche Art von introspektiver Aggression.

Nach meinen persönlichen Erfahrungen ist das generelle britische Bild vom modernen Deutschland und den Deutschen vollkommen überholt. Der allgemein gewachsene Wohlstand hat mehr und mehr Briten Reisemöglichkeiten eröffnet, man fliegt durch die Welt, oft aber auch nur zu bestimmten abgeschlossenen Urlaubsorten. Das heißt nicht, dass daraus irgendein Sinn für eine gemeinsame kulturelle Identität entstanden ist. Die Briten sind großzügig, aber wenn es um ihre Souveränität geht oder auch kleinere Dinge, wollen sie immer noch die Kontrolle haben und die Hand am Ruder behalten. Genau das verbirgt sich beim Brexit hinter dem Begriff „Demokratiedefizit“ und dem Rückzug in die „Nation“.

Daraus folgt nicht, dass der kulturelle Austausch mit Europa zwangsläufig nachlässt. Aber die Beziehungen werden distanzierter werden, weniger familiär. Aus meiner Sicht eines in Berlin lebenden Briten ist das ein großer persönlicher Verlust. Eines Tages, so glaube ich, werden die Menschen in Großbritannien die Entscheidung bereuen – aber der Geist ist aus der Flasche und lässt sich nicht wieder zurückstopfen.

Ich werde nun nicht mehr ein europäischer Bürger in Berlin sein, sondern ein Fremder an einem Ort, den ich als meine Heimat empfinde. Das ist schwer zu schlucken und in diesen Tagen noch schwerer zu verdauen. Ich empfinde darüber eine tiefe Traurigkeit. „Ein Narr hält sich für weise, aber der Weise weiß, dass er ein Narr ist“ (William Shakespeare, „Wie es euch gefällt“).

Mark Gisbourne, geboren 1948 in Stratford on Avon, lebt als Kurator, Kunsthistoriker und Kritiker in Berlin. Seinen Text hat Rüdiger Schaper aus dem Englischen übersetzt.

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