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Kultur: Siegfried Lenz: Lies Lesarten!

Schon früh hat er die Bedingungen und Funktionen seines Schreibens analysiert, hat über Wechselwirkungen von Literatur und Gesellschaft nachgedacht, seine schöpferische Position in politischen Abläufen verortet. Geprägt durch eine Jugend im Weltkrieg und überzeugt von der schuldhaften Verstrickung des Individuums ins Leben entwickelte Siegfried Lenz in seiner Prosa sozialkritische Perspektiven, die immer wieder von existentiellen, nicht selten pessimistischen Motiven gebrochen wurden.

Schon früh hat er die Bedingungen und Funktionen seines Schreibens analysiert, hat über Wechselwirkungen von Literatur und Gesellschaft nachgedacht, seine schöpferische Position in politischen Abläufen verortet. Geprägt durch eine Jugend im Weltkrieg und überzeugt von der schuldhaften Verstrickung des Individuums ins Leben entwickelte Siegfried Lenz in seiner Prosa sozialkritische Perspektiven, die immer wieder von existentiellen, nicht selten pessimistischen Motiven gebrochen wurden. Vor 50 Jahren erschien sein erster Roman "Es waren Habichte in der Luft", beim Verlag Hoffmann und Campe, dem er bis heute die Treue gehalten hat. Mit der "Deutschstunde" (1968) wurde er Schulbuchautor. Von Helmut Heißenbüttel ist der Satz überliefert: "Zieht man einen Querschnitt durch die Literatur der Gruppe 47, dann kommt dabei die Prosa von Siegfried Lenz heraus."

Dennoch ist es in den letzten Jahren ruhiger um Lenz geworden. Anders als sein alter Weggefährte Grass meidet er die öffentlichen Debattenplätze und ist doch über all die Jahre ein Monument deutscher Nachkriegsliteratur geblieben. Wenn nun allerdings anläßlich seines heutigen 75. Geburtstages ein schmaler Band mit drei Essays veröffentlicht wird, die alle bereits anderen Ortes abgedruckt wurden und von denen einer sogar schon über 20 Jahre auf dem Buckel hat, dann kommt das eher einer Verlegenheitslösung gleich. Die Mutmaßungen, die Siegfried Lenz über die Zukunft der Literatur anstellt, sind mittlerweile weitgehend Konsens. Alle medialen Konkurrenten - vom Radio bis zum Computer - seien nicht in der Lage, so Lenz, das Buch aus dem Bedürfnisfeld der Menschen zu verdrängen. Wenn er über amerikanische Literatur schreibt oder allgemein die Antagonismen von Macht und künstlerischer Phantasie reflektiert, ist dabei seine stabile Überzeugung von der "Selbstverpflichtung des Autors, Realität zu spiegeln oder zu verändern" stets spürbar. Lenz begreift sich als Regionalist und Chronist, der die nachhaltigen Wirkungen der Vergangenheit in der Gegenwart wahrnimmt und erzählend diskutiert. Ihm geht es um die möglichst präzise, detailreiche, sinnliche Aneignung von Welt, um die Erfahrbarkeit und Durchdringung unserer Existenz literarisch zu transformieren und zu vermitteln. Dass er sich dabei Erzählern wie Faulkner, Hemingway und Dos Passos eng verbunden fühlt, kann nicht verwundern. Zu sehr sind deren Stilmittel gegenwärtig, gerade in den frühen Werken.

Lenz betont stets das "Angebot" seiner Texte; verschiedene Lesarten seien wünschenswert, Autor und Leser sollten im Dialog komplexe und durchaus ambivalente Bilder entwickeln. Vielleicht ist der heutige Geburtstag des Autors für manchen Leser ein willkommener Anlass, ins Bücherregal zu greifen und dieses Gespräch wiederzubeleben.

Thomas Kraft

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