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Kultur: Sinn ist sinnlos

Poppig: das Berlin Festival im alten Poststadion

Am Ende des ersten Tages steht eine Pose, die den Glauben an die Kraft der Musik zelebriert und ihn zugleich verlacht: Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow wirft sich ins Publikum und ruft: „Music is the healing force of the universe! Music is love!“ Hier scheint jemand verzweifelt zu versuchen, aus dem popkulturellen Vokabular der Selbstbekenntnisse das Letzte herauszupressen. Während die Menge sich auf der großen Wiese des Poststadions fast verliert und zum großformatigen Tocotronic-Rock eher entspannt wippt als entfesselt tanzt, geht auf der „Vice Stage“ die Party ab. Die kleine Bühne mit ihrer Waldspielplatz-Atmosphäre ist für den schmutzigen Teil des Festivals zuständig. Hier lässt sich ablesen, wonach der Jugend der Sinn steht: Trash! DJane Princess Superstar, Leoparden-Kleid und goldener Haarreif, pumpt wuchtige Bässe und billige Synthies in die tanzende Meute und lacht kokett verschüchtert über ihre eigene Inszenierung als Partyqueen – wie eine Zwölfjährige, die die Minibar ihrer Eltern geplündert hat und sich jetzt mit der Plattensammlung ihrer großen Schwester vergnügt. Nirvanas „Smells Like Teen Spirit“ trifft auf den „Ghostbusters“-Song und wird zum sinnfreien Zitat.

Wir sind nicht Herren unseres Tuns – bei aller Vermeidung klarer Botschaften, diese immerhin bringt die Jugend beim Berlin Festival rüber. In knallengen Hosen, die müden Blicke hinter überdimensionierten Insektenbrillen verborgen, irren sie über das Gelände, die Hipster, die nachts die Indie- und Elektroclash-Clubs der Hauptstadt füllen. Im Rio, dem vor drei Monaten geschlossenen Club in der Chausseestraße, feierten sie zwischen Abba und Techno das Einreißen aller Geschmacksgrenzen. Einer der Betreiber war Conny Opper, Lebensgefährte der diesjährigen Headlinerin Peaches. Er veranstaltet mit Hilary Kavanagh das Berlin Festival. Nach zwei Jahren in einem Dorf hinter Schönwalde ist das Festival nun in Berlin angekommen, im alten Poststadion in der Nähe des Hauptbahnhofs.

Einige Gäste aus anderen Ländern haben ihren Berlin-Urlaub auf dieses Wochenende gelegt. Viele wollen Peaches sehen, die provokante Demaskierungskünstlerin, die am Samstag abend einen feurigen Auftritt als Herrin ihrer eigenen Peep Show hinlegt. Zudem bietet die Veranstaltung alles, wofür die Stadt in der Welt geliebt wird: Offenheit, Handmade-Charme, bezahlbares Essen und das Versprechen, der Entstehung neuer Trends beizuwohnen.

Auch wenn der träumerische Indierock der Texaner Midlake so liebevoll aufgenommen wird wie die drei schüchternen Hippie-Feen Au Revoir Simone – der Haupttrend geht zur Absage an klare Sinnzusammenhänge. Shitdisco aus Schottland versetzen das Publikum in einen andauernden Stresszustand, mit wummernden Bässen, schmalbrüstigen Gitarren und einem hektischen Schlagzeuggetrappel, das nie zum Luftholen kommt. Darüber heulen Sirenen und „Disco, Disco, uh-uh“-Gesänge. Die Jungs scheinen ihre Jugend ausschließlich vor Spielkonsolen verbracht zu haben. Eine Feier der Reizüberflutung.

Im Publikum: lachende Gesichter und zuckende Körper mit umhergeschleuderten Gliedmaßen, auch später in der Nacht bei der After Party im Tape Club. New Rave, dieser Bastard aus Punk und Disco Music, verheißt eine Befreiung, die an den Punk erinnert – wobei sie sich nicht gegen das System richtet, sondern aus der Mitte der Maschine kommt. Ein riesiger Ball mit dem Logo eines Mobilfunkkonzerns stürzt wieder und wieder auf die Menge ein, um neu emporgestoßen zu werden: Es ist nicht auszumachen, ob hier der Kapitalismus alles überrollt oder ob bereits auf seinen Trümmern getanzt wird. Protest und Vermarktung sind kein Widerspruchspaar mehr, aus dem noch Reibung entstehen könnte. Viele Bands singen immer wieder den eigenen Namen. Und Uffie, die Lolita vom angesagten Pariser Elektro-Label Ed Banger, hat ihr Albumcover auf dem DJ-Pult stehen wie bei einer Produktpräsentation. Ausgerechnet Tocotronic sind es, die auf ihrem neuen Album dazu einladen, die Fahnen einzurollen und sich hinzugeben: „Und wenn du nicht weißt, wie soll es weiter gehen: Kapitulation“.

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