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Kultur: Sire, geben Sie Spaßfreiheit!

Unsere Leichen tanzen noch: Die Bregenzer Festspiele eröffnen mit Carl Nielsens „Maskerade“

Stimmig ist die doppelgleisige Strategie der Bregenzer Festspiele allemal. Während auf der großen Seebühne ein Blockbuster von Puccini, Verdi oder Gershwin für die Quote sorgt, bleiben im Festspielhaus die Hits des Opernrepertoires buchstäblich außen vor. Die erste, dem Open- Air-Spektakel auf dem Bodensee einen Tag vorgelagerte Premiere ist regelmäßig einem jener Stücke gewidmet, die Kritiker und Freaks lieben, aber sonst fast nie zu sehen bekommen. Ernest Chaussons franko-wagnerisierender „Roi Arthus“, Bohuslav Martinus „Griechische Passion“, Riccardo Zandonais Verismo- Mittelalterschocker „Francesca da Rimini“ und Rimsky-Korsakows mystische „Kitesh-Legende“ – lauter Meisterwerke, die in Bregenz in den letzten Jahren wirkungsvoll wieder aufpoliert worden sind. Die Liste zeugt von einem sicheren Gespür für den Unterschied zwischen zu Unrecht Vergessenem und der Opernmeterware der Musikgeschichte.

Auch Carl Nielsens 1906 uraufgeführte „Maskerade“ ist so ein Meisterwerk, das an seinem relativ geringen Bekanntheitsgrad selbst keine Schuld trägt. Das Stück hatte lediglich das Pech, dass die Sehnsucht des Jahrhundertwende-Publikums nach den freigeistig frivolen Blattgold-Paradiesen des Rokoko schon anderweitig gedeckt wurde: durch Richard Strauss’ wenige Jahre später entstandenen „Rosenkavalier“ und durch Erfolgsoperetten wie „Madame Pompadour“ oder „Die Dubarry“. Zwischen den Luxus-Depressionen einer Marschallin und dem Sexhunger der Mätressen war für Nielsens flammend emphatische Verteidigung des Rechts auf Spaßfreiheit kein Platz mehr. Und nach 1914 hatte die Welt ohnehin erst mal andere Sorgen.

Seine Tücken hat der Opernspaß allerdings auch heute noch. Denn die nach einem Lustspiel des dänischen Klassikers Ludwig Holberg gestrickte Handlung ist für sich genommen nicht gerade aufregend. Auf einem Maskenball hat sich der junge Leander in eine Unbekannte verliebt, soll aber nach dem Willen seines Vaters Jeronimus die Tochter eines Geschäftsfreundes heiraten. Das schafft komödientypischen Verdruss, bis sich am Ende alle Beteiligten beim Maskenball treffen, der Zank ein Ende hat und alles wieder in dänischer Butter ist.

Interessant und gegenwartstauglich ist diese „Maskerade“ freilich ohnehin nicht als Comedy-Show, sondern weil – wie bei allen guten Komischen Opern – unter dem flotten Wellengekräusel der Oberfläche eine tiefere Strömung verborgen ist. Die Gleichsetzung von Spaß und Freiheit, die Leander und sein gewitzter Diener Hendrik vornehmen, wird erst dann nachvollziehbar, wenn das autoritäre Regiment der Elterngeneration in seiner ganzen Härte und Lustfeindlichkeit hervortritt. Die unwiderstehliche Anziehungskraft des Maskenballs auf alle Beteiligten wird erst dann abendfüllend, wenn man ihn als soziales Ventil offenbart: als Ort, an dem Standesgrenzen aufgehoben sind und jeder seinen Träumen Gestalt geben darf. Leanders alte Mutter Magdelone wird so zur feurigen Flamenco-Braut, und selbst der sittenstrenge Vater Jeronimus frönt im Bacchus-Kostüm seinen Gelüsten.

Bei den Bregenzer Festspielen ist von dieser Tiefenschicht, vom Spiel mit Maske und Demaskierung leider kaum etwas zu sehen. Der neue Festspiel-Intendant David Pountney, der in Berlin zuletzt im April an der Deutschen Oper Leoncavallos „Bajazzo“ und Mascagnis „Cavalleria rusticana“ mit viel Getöse in den Sand gesetzt hat, versucht es stattdessen mit Klamauk und mit ulkigen Typen. Die Gestalten, die das symbolistisch angefütterte Rokoko-Kopenhagen seines Bühnenbildners Johan Engels bevölkern, sehen aus, als seien sie einem englischen Kinderbuch entsprungen: bunt und harmlos.

Selbst der grimme Jeronimus (von Bass-Veteran Günter Missenhardt mehr geknurrt als gesungen) wirkt als Uncle- Scrootch-Verschnitt weder bedrohlich noch bemitleidenswert. Dabei lässt die kirchenliedartige Litanei, die Nielsen im ersten Akt für ihn parat hält, sogar Spielraum für beide Deutungsalternativen. Kaum verwunderlich, dass auch die Kernszene des Stücks, Hendriks aufklärerisches Plädoyer für Freiheit, Licht und Maskerade, nahezu ohne Beteiligung der Regie vorbeirauscht (selbst Markus Brück, bester Sänger im durchwachsenen Ensemble, kann da nur bedingt gegensteuern).

Der große Maskenball des dritten Aktes, eigentlich utopisch wirbelnde Gegenwelt und Freiheitsversprechen, wächst sich so zum Tiefpunkt des Abends aus. Die Chorszenen, in denen der Überschwang und das Bewusstsein der eigenen Kräfte zur aggressiven, fast Party sprengenden Konfrontation der Gruppen führt, hat Pountney ohnehin gestrichen. Dafür gibt’s viel läppische Revue: Elvis, Marilyn und Co. treten auf, ein Tanzmeister im Nosferatu-Kostüm (prägnant: Martin Winkler) watschelt als fleischgewordenes Vanitas-Menetekel über die Bühne. Eine Inszenierung von „Orpheus in der Unterwelt“ in der Provinz sieht heutzutage nicht viel anders aus.

Bleibt Nielsens Musik: Ulf Schirmer, derzeit heißer Kandidat für die Nachfolge Christian Thielemanns an der Deutschen Oper Berlin, setzt sich am Pult der Wiener Symphoniker mit Hingabe für das Stück ein. Schon in der Ouvertüre findet er ein plausibles Gleichgewicht zwischen der komödiantischen, an Mozarts „Figaro“ erinnernden Turbulenz der wirbelnden Geigen und dem insistierenden, dunkleren Grundmotiv, das immer wieder aus den tieferen Stimmen emportaucht. Ein trocken spritziger Champagnerklang, der nie zu Kopf steigt oder gar den Blick auf die Realität vernebelt.

Die kommentierenden Pointen und barocken Stilmaskeraden dieser fantastisch geistreichen, sprühenden Musik serviert Ulf Schirmer mit lakonischem Humor und klugem Witz. Wenigstens einer, der Spaß versteht.

Jörg Königsdorf

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