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Kultur: Söhne der Berge, in der Isar getauft

Auf bayerischen Naturseen übte Jahrzehnte lang der deutsche Eishockeynachwuchs. Geblieben sind nur Trotz und die Erinnerung

Der Aufstieg in die Vergangenheit beginnt, wo Spazierweg, Loipe und Bahnschienen einander berühren. Neun Kehren hinauf durch den Nadelwald, vorbei an zwei Luxushotels bis zum See-Café. Die Aussicht von der Terrasse hat das Bayerische Fernsehen zur schönsten im Freistaat gewählt: links und rechts bewaldete Hänge, in der Mitte ein Bergweiher, der Riessersee, durch und durch von Schnee bedeckt. Trägt das Eis? „Natürlich“, sagt die Wirtin vom See-Hotel. „Aber der Schnee liegt so dick, wir bekommen ihn einfach nicht weg.“ Dann geht sie in den Keller und holt gerahmte Fotos hervor. Der Bergweiher in den Zwanzigerjahren: Die Eisfläche ist spiegelblank, die Hotelgäste laufen Schlittschuh und spielen Eishockey. So viel und so gut, dass sie einen Verein gründen, den SC Riessersee.

Riessersee – der Zauber dieses Namens eröffnet sich beim Betrachten der alten Fotos. Man erahnt die Kraft der Kälte und den Spaß, den die Männer auf dem Eis haben. Auf den Schwarz-Weiß-Fotos ist der klare Himmel zu sehen und als blau zu erahnen, und glühen die Wangen der Spieler nicht rot in der Sonne? Der Winter war kalt und Eishockey ein Stück Heimat, folglich spielte man im Vereinsbetrieb ein Leben lang für seinen Heimatklub. Die Zuschauer kannten ihre Helden noch vom Angesicht, weil diese noch keine Helme trugen, sondern allenfalls Zipfelmützen.

Welch ein Gegensatz zur heutigen Zeit, in der die Mannschaften schon mal von einer Saison zur nächsten die Hälfte ihrer Belegschaft austauschen. Eishockey ist ein Spektakel der Großstädte in modernen Arenen, inszeniert von Großkonzernen. 1976, als Deutschland bei den Olympischen Spielen von Innsbruck Bronze gewann, waren 15 von 18 Spielern bayerischen Ursprungs. Wenn am kommenden Mittwoch das Olympische Turnier in Turin beginnt, kommt gerade noch ein Drittel der Nationalspieler aus Bayern.

Es ist ohnehin nicht so, dass Eishockey in Deutschland eine bayerische Erfindung ist, mit den Pionieren aus Riessersee, Füssen oder Bad Tölz und dem Urbayern Erich Kühnhackl als größtem Star aller Zeiten. Kühnhackl ist erst als 17-Jähriger aus seiner tschechischen Heimat ins bayerische Landshut ausgewandert. Und das erste Spiel auf deutschem Eis hat nicht auf einem bayerischen Weiher stattgefunden, sondern tief in Preußen, auf dem Halensee in Wilmersdorf (das damals noch nicht zu Berlin gehörte). Am 4. April 1897 tritt der Akademische Sportclub gegen eine Mannschaft aus in Berlin lebenden Kanadiern an. Als Tore dienen Gartenstühle, die Bande ist ein Schneewall. Die Spieler tragen Fußballtrikots, ihre Schienbeine schützen sie mit Pappkartons. Die Akademiker siegen 11:4.

In Bayern spielt das Eishockey zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts keine Rolle. Der Riessersee ist noch ganz in der Hand der Eisstockschützen, als es in Berlin schon eine Stadtmeisterschaft mit zehn Vereinen gibt. Der Berliner Schlittschuh-Club ist die überragende Mannschaft dieser Jahre. Zur Premiere im Jahr 1912 gewinnt er die erste seiner insgesamt 20 deutschen Meisterschaften. In den Zwanzigerjahren, die Klubs in Riessersee und Füssen haben sich gerade gegründet, feiert Berlin schon den ersten deutschen Superstar: Gustav Jaenecke holt mit dem Schlittschuh-Club zwölfmal die Meisterschaft, mit der Nationalmannschaft wird er zweimal Europameister, nebenbei spielt er Tennis im Davis-Cup-Team. „König Justav“ gehört zur Berliner Gesellschaft und ist ein gern gesehener Gast am Stammtisch des Boxers Max Schmeling.

1932 reist Jaenecke mit der Nationalmannschaft zu den Olympischen Spielen nach Lake Placid. 2000 Mark stellt der Reichssportbund zur Verfügung, das reicht nicht mal für die Schiffspassage nach New York. Zur Deckung der Kosten absolviert die Nationalmannschaft in den USA drei Privatspiele, eines während des olympischen Turniers. Es haben nur vier Mannschaften gemeldet. Die Deutschen gewinnen zweimal gegen Polen und holen Bronze. Doch zu dieser Mannschaft gehören neben sechs Berlinern auch schon drei Riesserseer und ein Füssener.

Ein Jahr zuvor hat das IOC die Olympischen Sommerspiele 1936 an Berlin vergeben. Damit hat Deutschland das Recht zur Veranstaltung von Winterspielen erworben. Das gestaltet sich schwierig, denn es gibt zu diesem Zeitpunkt gar keinen geeigneten Wintersportort mit Sprungschanze, Kunsteisstadion und angemessener Hotelkapazität. Eigens zu diesem Zweck werden Garmisch und Partenkirchen vereinigt, gegen heftigen Widerstand der Garmischer Gemeinderäte. Ihre Zustimmung erzwingt der bayerische Innenminister angeblich mit der Drohung, sie würden sonst ins Konzentrationslager nach Dachau geschickt.

Die Olympischen Spiele werden im Ausland zu einem ersten Propaganda-Erfolg für das Dritte Reich. Erich Kästner erzählt in seiner Kurzgeschichte „Zwei Schüler sind verschwunden“, wie zwei Jungen einfach so aus der Schule abhauen, weil sie bei den Spielen zuschauen wollen. Sie frieren an der Bobbahn und kommen zufällig an zwei Karten für das Eishockeyspiel zwischen England und Kanada. Die Engländer gewinnen und holen die Goldmedaille, sind natürlich alles naturalisierte Kanadier, doch dieses Detail ist eher unwesentlich. Aber die Faszination des Eishockey, die ist wesentlich und scheint auch auf Kästner gewirkt zu haben.

Riessersee dominiert vor und nach dem Krieg, ein paar Jahre spielt auch der aus dem zerbombten Berlin geflüchtete Gustav Jaenecke am Fuß der Zugspitze. Die Zukunft aber gehört einer anderen Mannschaft, dem EV Füssen. Als 1958 die Bundesliga eingeführt wird, haben die Allgäuer zum fünften Mal in Folge den Titel gewonnen. Xaver Unsinn, der spätere Bundestrainer, stürmt für Füssen, Publikumsliebling ist der eisenharte Verteidiger Paul Ambros. Für Füssen ist es in diesen Jahren schon ein Misserfolg, wenn ein Spiel nicht zweistellig gewonnen wird. Noch heute schwärmen alte Füssener vom 20:1-Sieg über die Düsseldorfer EG.

„Damals hat die Bahn bei unseren Spielen Sonderzüge eingesetzt, so groß war das Interesse“, erzählt der Füssener Stadthistoriker Walter Danzer. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren ist das Stadion am Kobelhang fast immer ausverkauft. Es ist in den Berg hinein gebaut und an drei Seiten offen, oft genug weht der Schnee auf die Eisfläche. Dann wird das Spiel unterbrochen und ein Hubschrauber wirbelt den Schnee mit seinen Rotorblättern vom Eis. Seine Ausnahmestellung mit 16 Meisterschaften in 23 Jahren erkauft sich der EV Füssen mit dem Einverständnis der Spieler, dass Eishockey ein Hobby ist und keiner besonderen finanziellen Unterstützung bedarf. Die bayerischen Naturburschen haben ihren Spaß und spielen zu Hause, weil es da am schönsten ist.

Das Zeichen zur Wende kommt aus Bad Tölz. Der dortige Eis-Club hat 1962 seine erste Meisterschaft gewonnen. Die Tölzer Buam gehen tagsüber arbeiten und bekommen 30 Mark pro Spiel und ein Abendessen. In die Idylle hinein platzt 1963 die zweitklassige Düsseldorfer EG mit einem Angebot für die Nationalspieler Otto Schneitberger und Sepp Reif. Sie sagen zu – und der Eklat ist perfekt. Der Tölzer Vorstand ist außer sich, schimpft über Untreue und Undankbarkeit und lässt die beiden für 18 Monate sperren. Schneitberger stört das wenig. Er bildet sich in Düsseldorf zum Architekten weiter und führt die DEG später noch zu drei Meisterschaften. Aber noch neun Jahre nach Schneitbergers Wechsel, erzählt der nach Berlin abgewanderte Tölzer Lorenz Funk, wird der vermeintliche Verrat als so empörend empfunden, dass er beim ersten Gastspiel in der Heimat mit einer aufs Eis geworfenen Galgenschlinge begrüßt wird.

Mit dem Wechsel von Schneitberger und Reif ist das Tabu gebrochen. Neue Großstadtteams rücken nach, Berlin, Köln, München. Der FC Bayern verfügt zeitweise über ein Bundesligateam, das er 1969 für 135 000 Mark nach Augsburg verkauft. Ein paar Jahre versuchen die Traditionsklubs, das teure Spiel mitzuspielen. Ende der Sechzigerjahre kommen die ersten ausländischen Profis in die Bundesliga, den Anfang macht ausgerechnet der SC Riessersee mit dem slowakischen Weltstar Jozef Golonka.

Die finanzkräftigen Klubs rekrutieren ihr Personal fast ausschließlich in Bayern. Lorenz Funk geht 1972 nach Berlin. Daheim hat er als Schlosser gearbeitet, in Berlin widmet er sich ausschließlich dem Eishockey. Als der Schlittschuh-Club zwei Jahre später Deutscher Meister wird, steht kein einziger Berliner im Team, „dafür aber jede Menge Bayern, ich habe mich von Anfang an zu Hause gefühlt“, erzählt Funk. Er lebt seit 34 Jahren in Berlin und spricht immer noch breites Oberbayerisch. Funk ist Bayer, der allen Klischees genügt: groß gewachsen, stattliche Figur, immer zu haben für eine Brotzeit und einen Krug Bier. Ein Idol aber ist er nicht daheim, sondern in Berlin. Lebenswege wie seiner stehen für die Süd-Nord-Verschiebung im deutschen Eishockey.

Den steten Fortzug ihrer besten Spieler können die bayerischen Klubs nicht aufhalten. Es fehlt an potenten Sponsoren. In den verwinkelten Tälern siedelt sich keine Industrie an, es gibt kein Ballungsgebiet, das für Investoren interessant ist. Die Infrastruktur ist bescheiden. Wer die 30 Kilometer von Garmisch nach Füssen mit der Bahn zurücklegen will, muss den Umweg über Tirol nehmen und ist gut zwei Stunden unterwegs.

Als erster Traditionsverein verabschiedet sich Bad Tölz aus der Bundesliga. Das ist 1976, und Lorenz Funk erinnert sich an den letzten Spieltag: „Wir spielten in Tölz und waren schon Meister. Tölz brauchte einen Punkt, na ja, ich habe nicht ein einziges Mal aufs Tor geschossen.“ Berlin gewinnt dennoch. Tölz steigt ab und kehrt bis heute nicht mehr zurück. Das alte Eisstadion, in dem der 18-jährige Funk 1966 zum ersten Mal Meister wurde, ist vor ein paar Jahren abgerissen worden. Schmerzt der Verlust? „Ach was. Immer der Ärger mit den Anwohnern, von wegen Lärmbelästigung und so, man konnte nicht mal mehr gescheit jubeln. Gut, dass die Halle weg ist.“

Die Stadt hat den Verein, der vor ein paar Jahren so gut wie pleite war, wieder lieb gewonnen. Sie akzeptiert, dass es nie wieder sein wird, wie es einmal war, mit Meisterschaften und Spitzenspielen in der ersten Liga. Die Tölzer haben ein neues Stadion gebaut, auf dem Gelände der Flint Barracks, einst eine der größten Kasernen der US Army in Deutschland. Es gibt zwei Eisflächen, der Zulauf von Kindern ist so groß, dass der Verein nur noch Spieler aus der Umgebung aufnimmt. Das Konzept heißt: „Tölzer für Tölz.“ Die Fans sind stolz, dass ihr Team fast ausschließlich aus Einheimischen besteht. Im Stadion singen sie: „Söhne der Berge, in der Isar getauft. Zusammengewachsen, nicht zusammengekauft!“ Vor einem Jahr ist die Schülermannschaft Meister geworden, trainiert von Lorenz Funks Sohn Florian. Das Eishockey lebt im Isarwinkel. Nur in der zweiten Liga, aber es geht ihm gut.

„Der Mythos lebt“, heißt es auch in Füssen, auf einem Transparent am Eingang zur Fußgängerzone. Gemeint ist aber nicht der Mythos Eishockey, sondern das König-Ludwig-Musical am nahen Forgensee. Die Kultur hat den Sport in Füssen abgelöst. Ende der Achtzigerjahre ist das baufällige Eisstadion am Kobelhang abgerissen worden. Heute steht hier das Bundesleistungszentrum, ein theaterähnlicher Bau mit hohem Kuppeldach. Der EV Füssen spielt in einer Nebenhalle, vom Publikum eher beiläufig zur Kenntnis genommen. Selten kommen mehr als 1000 Zuschauer, auf Heimspiele weist nur ein Banner am Stadionparkplatz hin: „Heute Eishockey“. 1983 hat sich der Verein erst in den Konkurs und dann aus der Bundesliga verabschiedet. Nur die Nachwuchsarbeit ist noch erstklassig. Die Plätze im Eishockey-Internat sind begehrt. Immer wieder bringt Füssen einen Nationalspieler hervor, der bislang letzte heißt Felix Petermann. Er ist heute 21 und spielt seit drei Jahren in Nürnberg.

Die Gegenwart spielt in der drittklassigen Oberliga. Anfang Januar dieses Jahres verlieren sich 1800 Fans im Garmischer Stadion beim Duell der beiden Altmeister. Riessersee gegen Füssen, das war einmal das Spiel der Spiele. Das Olympiastadion ist längst überdacht und mit seiner filigranen Holzkonstruktion immer noch eines der schönsten in Deutschland. Die Zuschauer tragen Schals mit dem Logo der Düsseldorfer EG und Mützen in den Farben der Kölner Haie. Eishockey zählt in Garmisch-Partenkirchen zum touristischen Rahmenprogramm.

Die Gäste sind unzufrieden mit dem Schiedsrichter, er gibt zu viele Strafzeiten. Bierbecher und Schneebälle fliegen aufs Eis. Hier wollen die Fans kein stromlinienförmiges Eishockey sehen wie in den modernen Arenen von Hamburg oder Hannover, sie wollen Checks und zünftige Raufereien und dazu einen Glühwein trinken. So wie früher auf dem Riessersee. „Die Frauen sind mal zum Eishockey gegangen, weil auf dem Eis die Fetzen flogen“, sagt der Riesserseer Trainer Andreas Brockmann. „Aber wenn das so weitergeht, ist bald beim Damen-Fußball mehr los.“ Brockmann kommt aus Bad Tölz, er hat lange in Berlin und Düsseldorf gespielt. Er hatte ein Angebot aus der zweiten Bundesliga, aber Oberbayern war ihm näher als Weißwasser.

1981 wird der SC Riessersee zum zehnten und letzen Mal Meister, aber da lebt er schon über seine Verhältnisse. Nach dem Bundesliga-Abstieg 1987 spielen die Garmischer ein paar Jahre mit dem Kürzel „i. K.“ – in Konkurs. 1995 kauft sich der SC Riessersee mit dem Geld eines Anlagebetrügers in die höchste deutsche Spielkasse ein, die mittlerweile DEL heißt, Deutsche Eishockey-Liga. Der Schwindel fliegt auf und der Klub aus der Liga. Sechs Jahre später kehrt ein Film-Millionär nebst Hollywood-Gattin (Süddeutsche Zeitung: „B-Movie-Queen“) aus den USA zurück nach Garmisch. Er kauft vom bayerischen Prinz Luitpold ein adliges Prädikat und nennt den SC Riessersee so wie Real Madrid: „Die Königlichen“. Nach einem Jahr ist das Paar wieder weg und der Verein zahlungsunfähig. Zu ihrem letzten Spiel vor der Pleite reisen die Riesserseer im Luxusbus an und logieren in einem Vier-Sterne-Hotel, das Spielern noch heute Zahlungsforderungen hinterher schickt. „Die Garmischer waren schon immer ein Sonderfall mit ihren Schickeria-Fans aus München“, erzählt der Tölzer Lorenz Funk. „Mit Geld konnten die noch nie umgehen. Für Riessersee haben wir schon in den Sechzigerjahren Benefizspiele gemacht.“

Vor zwei Jahren hat der Verein sein drittes Insolvenzverfahren überstanden und spielt nun bescheiden in der Oberliga. Das Publikum ist anspruchsvoll. „Wenn du zehnmal deutscher Meister warst, kannst du den Leuten hier schlecht die dritte Liga als großen Sport verkaufen“, sagt Trainer Brockmann. Regionale Sponsoren halten den Verein am Leben: Versicherungsagenturen und Autohäuser, ein Spaßbad.

Das große Geld sitzt woanders. Zum Beispiel im Leitenschlössel, einer Jugendstilvilla, die sich der russischeMilliardär Roman Abramowitsch gekauft hat. Dem Mann gehört der englische Fußballmeister FC Chelsea, in Sibirien hat er eine Eishockeymannschaft von Weltruf zusammengekauft, vielleicht interessiert er sich auch für Riessersee. Der Garmischer Bürgermeister hat schon mal ein Begrüßungsschreiben geschickt. Die Abramowitsch-Villa liegt ein wenig abseits im Ortsteil Partenkirchen. Es ist ein weiter Weg für das große Geld zum Garmischer Olympiastadion und dem zugeschneiten Riessersee.

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