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Kultur: Sokrates lebt

Zwei Oratorien: Simon Rattle mit den Berliner Philharmonikern und dem Rundfunkchor.

Immer wenn er kommt, ist er fast wieder ein Berliner. Denn der australische Komponist Brett Dean, von seinen Freunden demgemäß empfangen, war von 1985 bis 1999 als Bratscher Mitglied der Philharmoniker und wird 2014 beim RSB Solist eines eigenen Konzerts für Viola sein.

In einem umfänglichen Oratorienprogramm stellt Simon Rattle mit den engagiert aufspielenden Philharmonikern einem Werk von Michael Tippett die Neuheit des Ex-Philharmonikers als Uraufführung voran (wieder heute, 20 Uhr). Dean möchte „The Last Days of Socrates“ eher eine musikalische Szene nennen, weil ein bisschen Oper darin sei aber Abstand von Theater und Verkleidung. Graeme William Ellis hat das Libretto nach Platons Dialogen verfasst. Initiator des Auftragswerks ist Simon Halsey mit seinem Rundfunkchor, dessen edle Kunst hier aufblüht in der Anrufung der „Goddess Athena“, den Dialogen der mit gespaltener Zunge redenden Menge im Prozess und in der Beweinung Phaidons, während Sokrates den Schierlingsbecher leert. Der Philosoph sagt singend, christlich gesprochen, dass wir im Leben vom Tod umfangen sind und dass seine Seele nicht sterben wird.

John Tomlinson interpretiert die Partie mit einer bewegten Ruhe, die zu Herzen geht. Das Wichtigste aber sind die Klänge, Flageoletts, Vokalisen, sublimiertes Scherbengericht, gemischte Klänge, die bisweilen eine ganz ungewisse Herkunft suggerieren. Geheimnisvoll tönend dringt die Antike in die Gegenwart.

„Let my poeple go“ heißt es mit Pomp und Pauken. Denn Tippett hat anstelle der Choräle des Vorbildes Bach in sein Oratorium „A Child of Our Time“ Spirituals eingebaut. 1944 in London uraufgeführt, hat das Werk in der Welt mehr Resonanz gefunden als bei den Berliner Philharmonikern, die es 1959 einmal gespielt haben. Bis nun Rattle auftritt und die politische Musik seines Landsmannes ins 21. Jahrhundert holt. Es geht um den 17-jährigen polnischen Juden Herschel Grynszpan, der 1938 in Paris einen deutschen Botschaftssekretär erschossen hat, um auf die Not seines jüdischen Volkes aufmerksam zu machen. Solisten (Sally Matthews, Sarah Connolly, Matthew Polenzani, Tomlinson), Chor und Orchester breiten sich aus, Holzbläser verzaubern in „Mitleid“, wild attackiert der Terror mit „Zerschmettert!“ im Sinn von „Kreuzige!“. In verzweifelter Situation entstanden, erscheint diese Inselmusik vor allem gut gemeint. Starker respektvoller Beifall in der Philharmonie. Sybill Mahlke

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