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Kultur: Somnambul

Julia Kissinas Roman „Frühling auf dem Mond“.

Tausende von Präparaten beinhaltet die Sammlung des Anatomischen Theaters in Kiew. In Spiritus eingelegte Schädel, Embryonen und Gehirne in unterschiedlichen Wachstumsstadien. In der späten Breschnew-Ära dringen plötzlich Geräusche aus dem kuriosen Museum, das Quieken von Schweinen etwa. Hartnäckig halten sich Gerüchte, dass in dem klassizistischen Bau, der zu Revolutionszeiten Weißgardisten als Versteck diente und heute das Nationale Museum der Medizin beherbergt, ein Labor für Organtransplantationsversuche eingerichtet wurde. Dieses Anatomische Theater bildet den Hauptschauplatz von Julia Kissinas Roman „Frühling auf dem Mond".

Es ist die Geschichte einer von schaurigen Bildern beherrschten Kindheit, die die 1966 in Kiew geborene und heute in Berlin lebende Schriftstellerin, Aktions- und Foto-Künstlerin erzählt. Für die kleine, aus der bürgerlich-jüdischen Intelligenzija stammende Julia ist es unheimlich, in der Nähe dieses morbiden Ortes aufzuwachsen. Noch dazu, da die politischen Verhältnisse bedrückend sind und der eigene Vater als Dissident – und Autor lustiger Nummern für eine Zirkusrevue – in ständiger Angst vor Denunziation und KGB-Verhören lebt. Dabei gefällt einer seiner Sketche Breschnew so sehr, dass er einen Staatspreis bekommt. Julia stellt sich den „Generalsekretär des ZK der KPdSU“ fortan als großen Zirkusfan vor.

Dem verträumten Mädchen bleibt in so desolaten Zeiten die Fantasie. Die aber ist kaum zu bändigen und wird von einem Reigen skurriler Begegnungen und bizarrer Erlebnisse beflügelt, die Kissina in schillernden Farben und mit bissiger Ironie schildert. Ihr Onkel etwa bringt ein „weißes, leicht schimmerndes Pulver“ aus England zur Verkostung mit. Für die Familie, die den Westen ohnehin in kristallisierten Verklärungen imaginiert, ist der Fall klar: Das englische ist nicht nur weißer, sondern auch salziger als das Sowjetsalz. Ihre Initiation zur Dichterin erfährt Julia durch eine leicht ordinäre Wodka trinkende Mitschülerin, die „Kulakowa“, die sie in die Poetik der Lunatiker einweiht: somnambule Menschen, die „dem Ruf des Mondes“ auf die Dächer der Stadt folgen und ihr Gleichgewicht nicht verlieren, weil sie „von seinem mystischen Licht“ gehalten werden.

Die Grundstimmung des Romans ist düster. In ihrer Buntheit erinnert Kissinas bildgewaltige Prosa an Bruno Schulz. „Frühling auf dem Mond“ ist ein mitreißendes, ebenso humorvolles wie verstörendes Erinnerungsbuch, zugleich ein Kuriositätenkabinett wie das besagte Anatomische Theater, das man auch als Metapher verstehen kann. Die Erinnerung erscheint hier als Vielzahl konservierter Einzelpräparate. Fügt man sie wie Kissina in einen Zusammenhang, erzählen sie auf wunderbare Weise Geschichten – und Geschichte. Tobias Schwartz

Julia Kissina:

Frühling auf dem Mond. Roman. Aus dem Russischen von Valerie Engler, Suhrkamp, Berlin 2013,

252 Seiten, 18,95 €.

Tobias Schwartz

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