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Sozialgeschichte: Zeitgenosse Jürgen Kocka

Er war die junge Berühmtheit im Kreise jener Historiker, die vor gut 40 Jahren ansetzten, ihrem Fach eine neue Richtung zu geben. Die suggestive Formel dafür – damals noch eine Herausforderung – hieß Sozialgeschichte. Jürgen Kocka zum 70.

Heute ist Jürgen Kocka, der an diesem Dienstag seinen 70. Geburtstag feiert, nicht nur eine Säule seiner Disziplin, sondern zugleich Repräsentant einer Geschichtswissenschaft, der ihre respektable Rolle in den intellektuellen und politischen Diskussionen der Bundesrepublik sicher ist. Denn seither nahm sie einen eindrucksvollen Aufschwung, ihr Binnenleben boomt, auch anspruchsvolle Werke finden Leser – und Jürgen Kocka kann von sich sagen, einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet zu haben.

Das Wesen dieser Erfolgsgeschichte erkennt Kocka inzwischen in einer „analytischen Wende“, die weit über die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte hinausgeht. Tatsächlich hat die Kritik der traditionellen deutschen Geschichte, verbunden mit der kräftigen Durchlüftung ihrer Traditionsbestände und der Öffnung gegenüber den Fragen der Gegenwart, zu einer neuen Haltung des Fachs geführt. Man kann auch sagen, dass es – um es im modernen Marketingdeutsch zu sagen – sehr viel breiter aufgestellt ist als je zuvor.

Kockas Verdienst daran ist, erstens, eine bedeutende Karriere. Bereits die Dissertation, ein Mammutwerk, stieß in Neuland vor – sie behandelte am Beispiel von Siemens die Entstehung einer neuen sozialen Schicht, der Angestellten. Mit erst 32 Jahren als Professor nach Bielefeld berufen, wirkte er neben dem ihm freundschaftlich verbundenen Hans-Ulrich Wehler daran mit, die Reform-Universität zum Mekka der neuen Geschichtswissenschaft zu machen. Zweitens hat sich kaum jemand so wie Kocka von dem ärgerlichen Umstand in die Pflicht nehmen lassen, dass Wissenschaft auch Mitgliedschaft in Organisationen bedeutet, Leitung von Institutionen, Übernahme von Ämtern. Mit der sechsjährigen Präsidentschaft des Wissenschaftszentrums als Höhepunkt.

In der Phalanx der Leuchten der Nachkrieghistorie – der Wehlers, Mommsens, Nipperdeys – ist er der Einzige, der nicht schon vor dem Krieg geboren wurde. Was bedeutet, dass die Zeit des Nationalsozialismus für ihn keine Existenzerfahrung mehr war, es sei denn über die Vertreibung – Kocka ist im schlesischen Haindorf geboren. Vom Lebensalter ist er also keiner der „45er“, der ModernisierungsGeneration, vom intellektuellen Profil aber wohl. Liegt es daran, dass er in den geistig-politischen Auseinandersetzungen, die die Bundesrepublik beschäftigten, sei es der Historikerstreit, sei es zum Holocaust-Mahnmal, durchweg so etwas wie eine Ideallinie zwischen angemessener Kritik und Respekt vor gegnerischen Positionen fand?

Auch deshalb hat seine Stimme im intellektuellen Selbstgespräch der Republik so großes Gewicht. Sie bezieht es aus bewusster Zeitgenossenschaft und der Anstrengung der Wissenschaft. Und, nicht zuletzt, weil sie festhält an dem großen Anspruch, Geschichte als Aufklärung zu betreiben.

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