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Kultur: "Speak Like a Child"

Mit Tanzen, Saufen und Sex ankämpfen gegen Arbeitslosigkeit, Drogen, Aids und Hooliganismus. Das jüngste britische Kino bleibt sozialkritischDaniela Sannwald Nachdem Julia ihren Kneipenjob hingeschmissen hat, fangen die Probleme erst an.

Mit Tanzen, Saufen und Sex ankämpfen gegen Arbeitslosigkeit, Drogen, Aids und Hooliganismus. Das jüngste britische Kino bleibt sozialkritischDaniela Sannwald

Nachdem Julia ihren Kneipenjob hingeschmissen hat, fangen die Probleme erst an. Denn die 22-Jährige wohnt in Edinburgh, und dort gibt es, immer im August, ein großes Kulturfestival. Wenn man dort wohnt, hat man plötzlich sehr viele nicht unbedingt willkommene Mitbewohner. Telefonanrufe sind nicht mehr für Julia, sondern für Felicia oder Steven, die bereits am Frühstückstisch sitzen, und das Bad ist dauernd besetzt. Dabei ist Julia gerade in einer Sinnkrise; sie weiß nicht, was sie tun soll, und die Ratschläge ihres Vaters: "Es gibt immer etwas zu tun, du bist nur zu faul, junge Leute sind nicht mehr bereit, Verantwortung zu tragen" helfen ihr auch nicht weiter. Vorläufig stürzt sie sich ins Festivaltreiben, das für sie vor allem aus Partys besteht. Und die zentralen Fragen, die sie sich jeden Abend neu stellt, heißen "Woher kriege ich eine Einladung?" und "Wie komme ich ohne Einladung rein?" Julias konkrete Sorgen werden verstärkt durch eine Obsession: Vor zwei Jahren starb der stand-up comedian Bill Hicks mit 32 Jahren, und seitdem macht sie sich Gedanken über diesen Mann, von dem sie zum ersten Mal anlässlich seines Todes gehört hat.

Faye Jacksons Debütfilm "Resurrecting Bill" ist ein beunruhigendes, hektisches Porträt eines ins Wanken geratenen Lebens, und das setzt die Regisseurin mit raschen Schnittfolgen und splitterartigen Rück- und Vorausblenden ins Bild. Überlappende Dialoge und ein musikalischer Soundtrack treiben die Handlung vorwärts, und im Off hört man die Sketche von Bill Hicks.

Konventioneller erzählt ist John Akomfrahs "Speak Like a Child", der vor allem durch seine wunderbaren Landschaftstotalen besticht. Die wilde, leere nordenglische Küste, wo Ruby, Sammy und Billy in einem Kinderheim aufwachsen, konterkariert die Enge des Hauses. Und im intensiven Licht des frühen Morgens oder der orange-roten Sonnenuntergänge über dem Meer spüren die Jugendlichen die Freiheit, die der strenge Heimleiter ihnen versagt. Die Geschichte einer menage à trois beginnt zwanzig Jahre später, als die drei sich treffen, um den Ort ihrer Kindheit wieder zu besuchen. Es stellt sich heraus, dass sie ein Geheimnis teilen, das immer noch auf ihren Leben lastet. Das längst verlassene, düstere Haus erinnert sie an die alten Zeiten und nie gelösten Konflikte. Billy, schon immer ein rücksichtsloser Draufgänger, hat den sensibleren Sammy damals beschützt. Aber steht Sammy deswegen heute noch in seiner Schuld? Und welchen Einfluss hat Ruby, die von beiden geliebt wird und nun von Billy schwanger ist, auf die Beziehung der Freunde?

"Speak Like a Child" ist ein schön fotografierter, spannender Film, der im Umfeld der sozialkritischen Filme fast wie ein Märchen wirkt. Denn auch das jüngste britische Kino steht - wie dessen Repräsentanten der Achtziger, Ken Loach und Mike Leigh - eher in der Tradition des Free Cinema der frühen sechziger Jahre, das man damals abfällig "kitchen sink cinema" nannte. Arbeitslosigkeit, Identitätssuche und Erwachsenwerden, Kleinkriminalität, Drogen, Aids und Hooliganismus sind die Probleme der Twentysomethings in den neunziger Jahren, gegen die sie mit Tanzen, Saufen und Sex ankämpfen.

So in "Human Traffic" von Justin Kerrigan, dessen fünf Protagonisten eine einzige lange Party feiern, ein ganzes Wochenende durch. In "Strong Language" von Simon Rumley dagegen reden sie einfach: Rumley hat einen fiktiven Dokumentarfilm gedreht, in dem er seinen Darstellern erfundene Identitäten und jeweils einen Schauplatz zuwies. So repräsentieren sie die Generation der 19- bis 31-Jährigen, und vom Arbeitslosen bis zur reichen Hausfrau, von der radikalen Anti-Materialistin bis zum Yuppie ist das soziale Spektrum abgedeckt. Sie sitzen, hängen, stehen oder hampeln herum, während sie zu vorgegebenen Fragen Stellung nehmen. Das klingt nach talking heads, ist aber weit mehr. Denn Haltungen, Sprechweisen und Manierismen der Interviewten, die beiläufigen Beobachtungen der Kamera, die abrupten Themenwechsel, die immer schnelleren Bildfolgen entwickeln eine eigene Dynamik, die uns durchaus für achtzig Minuten zu fesseln vermag, und vermitteln ganz nebenbei, was in London gerade trendy ist. Ziemlich witzig wird es, wenn Felicia ihrem Ärger über französische Kellner Luft macht oder Peter verrät, wie man in einem teuren italienischen Lokal am besten die Zeche prellt.

Auch sonst präsentiert das Festival Hippes und Kultiges, etwa den klaustrophoben "Final Cut" von Dominic Anciano und Ray Burdis, in dem Jude Law postum seine Freunde mit heimlich aufgenommenen Videos terrorisiert. Oder wie Genevieve Jolliffes "Urban Ghost Story", in dem Drogenexzesse Geistererscheinungen und die wiederum jede Art von esoterisch angehauchten Scharlatanen auf den Plan rufen. Seit den achtziger Jahren gehört Großbritannien zu den aufregenderen Filmländern Europas, und wer bisher nur die historischen Panoramen aus der Merchant-Ivory-Produktion kennt, hat nun die Chance, einiges nachzuholen.British Independent Film Festival bis 31. Mai in den Berliner Kinos Acud, Brotfabrik und fsk.

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