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30 000 Süchtige und mehr als 500 Spielhallen gibt es in Berlin. Ein Etablissement in Neukölln.

© dapd

Spielotheken: Mensch, das darf doch nicht wahr sein!

Am Ende gewinnt immer die Bank: Wie Spieler in Casinos und Wettbüros dem Glück hinterherjagen. Ein Blick in die Spielhallen Berlins.

Vor ihm auf dem Pokertisch liegen Chips im Wert von 9000 Euro. Tasos, ein Kreuzberger griechischer Abstammung, könnte jetzt aufstehen, die Chips eintauschen und gehen. Er könnte seine Schulden begleichen, alle Rechnungen bezahlen und ein halbes Jahr von seinem Gewinn leben. Natürlich könnte er auch weiterspielen und die Summe vielleicht verdoppeln, verdreifachen, es läuft doch gut und wäre schade, auf den Jackpot zu verzichten. Also bleibt Tasos sitzen, und als das Spiel ihn nach einigen Stunden ausspuckt und er nach Hause gehen muss, hat er nicht mehr genug Geld in der Tasche, um sich einen Fahrschein zu kaufen.

Am nächsten Tag hat er sich frisches Geld besorgt und tritt wieder an. Er ist einer von geschätzten 30 000 Spielsüchtigen in Berlin. Seine Welt sind die Pokertische der Casinos, die mehr als 500 Berliner Spielhallen, die Wettbüros, die privaten Hinterzimmer. Wo immer er spielen kann, spielt er. Er setzt auf Rennautos, Pferde und Hunde, er wettet auf einen späten Ausgleichstreffer gegen Barcelona, in der Spielhalle füttert er drei Geldspielautomaten gleichzeitig. Seine Freundin und Familie sind ihm gleichgültig, Freunde hat er nicht mehr, Partys langweilen ihn, der Job als Kellner ist nur ein Alibi und allenfalls gut für den heimlichen Griff in die Kasse, wenn es schlecht läuft. Gelegentlich bemerkt er, dass er sich kaum noch wäscht, nicht mehr kämmt, seine Sachen nicht mehr wechselt. Er kann zwanzig Stunden spielen und sich nur von Kaffee und Zigaretten ernähren.

Kottbusser Damm, eines von unzähligen Automatencasinos. Die Schaufenster sind beklebt mit Roulette-Motiven und Bildern aufgestapelter Münzen; ein Blick ins Innere ist nicht möglich. Tritt man ein, empfängt einen gedämpftes Licht, ein weicher Teppichboden verschluckt alle Geräusche bis auf die leise Popmusik und das emsige Rattern, Piepen und Puckern der Geldspielautomaten, die in abgeteilten Nischen warten. Immergrüne Hydropflanzen und Lounge-Elemente erzeugen ein Flair zwischen Hotelhalle und Casino. Man sinkt in einen bequemen Ledersessel, bekommt von freundlich-diskreten Mitarbeitern kostenlos Kaffee und süße Snacks angeboten. Man soll sich hier wohl fühlen und verweilen. Die neue Generation der Multi-Gamer hängt nicht mehr unbequem an der Wand, sondern jedes Gerät kommt als angeschrägtes Pult dem Spieler entgegen. Man häuft die Münzen neben sich auf und wirft die erste ein; das Geld wird in Punkte umgebucht und das Spiel kann beginnen.

Einer fragt: "Soll ick zu Hause sitzen und uff die Möbel uffpassen?"

An diesem Mittwochnachmittag sind fast alle Geräte belegt, jeder Spieler hat sein Lieblingsspiel. „Book of Ra“ mit ägyptischen Motiven, „Queen of Hearts“ (auch „Queen of Hartz IV“ genannt) mit königlichen Insignien und einer grünäugigen Blondine, „Pirate Hunt“ mit Schatzkisten und lachenden Seeräubern, „Sissi Emperess of Austria“ mit Kutsche, Fächer und Kavalieren. Diese Motive müssen in einer bestimmten Reihe oder Konstellation erscheinen, dann winkt das Glück. „Turbobuchen möglich!“, versichert eine begeisterte Frauenstimme, als die Zahlen und Bilder sich zu einer Dudelmelodie drehen. Und tatsächlich: Eine Siegesfanfare ertönt, der Pirat verneigt sich lachend, eine Schatzkiste klappt leuchtend auf, 20 Punkte sind gewonnen. Nebenan meckert ein zunehmend genervter Spieler: „Menschenskind! Das kann doch nicht wahr sein! Mach jetzt, mach hinne“! Das Gerät hört nicht auf ihn und reagiert auch nicht auf seine Schläge und Tritte. Ein trübe beleuchtetes Schild mahnt: „Übermäßiges Spiel ist keine Lösung bei persönlichen Problemen!“ Aber ein echter Zocker hat keine Probleme, solange der Apparat nur leuchtet und puckert und dudelt.

Tasos kann sein Spielen sieben Jahre lang verbergen. „Der Oscar geht an alle Spielsüchtigen. Was sie an Ausreden, Finten, falschen Versprechungen aufbringen, ist besser als jeder Schauspieler.“ Er macht angeblich Überstunden, Seminare, nimmt eine Sporttasche mit und befeuchtet das Handtuch, bevor er nach Hause kommt. Ihm geht es nur darum, an neues Geld und wieder in die Spielhalle zu kommen. Wenn er spielt, hat er keine Gedanken, keine Gefühle mehr. „Träume ich? Wache ich?“ Es ist ihm egal. Niemand ist in seiner Welt aus Illusionen, Hoffnungen und Lügen so einsam wie ein Zocker, und doch fühlt sich jeder als heimlicher König: „Die anderen können mich mal.“

Alle Spieler wissen, dass am Ende immer die Bank gewinnt. Aber jeder glaubt, dass sein System jetzt endlich greift, dass die Strähne diesmal kommt, dass er heute den Zufall kontrollieren, das Glück erzwingen kann. Jeder kleine Gewinn bestätigt ihn darin und lässt ihn weiterspielen. Der Spieler als gewiefter „Geräteflüsterer“ meint zu spüren, wann ein Automat „reif“ ist und „wirft“, wann er „heiß“ wird und „aufmacht“.

Er hat drei Asse auf der Hand, 1200 Euro gesetzt - und dann das

Hermannstraße, Albers Wettbüro. Am Samstagmorgen kommen die alten Männer hereingeschlurft, Günter, Juppi, Ernst und Kalle. Dreißig Bildschirme übertragen Pferde- und Hunderennen aus aller Welt. Im südafrikanischen Kenilworth beginnt gleich das vierte Rennen, Soul Singer ist klarer Favorit, also noch rasch zehn Euro auf Sieg gesetzt. Soul Singer führt vom Start weg, aber ein alter Experte winkt ab: „Der geht von vorn, der wird uffgefressen.“ Und tatsächlich kommt Soul Singer nur als Zweiter rein, die zehn Euro sind weg. „Ich hab bestimmt schon zwei Häuser und drei Autos verzockt“, sagt einer der Männer, „meine Olle hat immer gesagt: Koof dir lieber ne Hose uffn Arsch!“ Jetzt setzen sie nur noch Cent-Beträge, aber ganz lassen kann er es nicht. „Soll ick zu Hause sitzen und uff die Möbel uffpassen?“

Tasos sitzt wieder am Pokertisch, er hat drei Asse auf der Hand und 1200 Euro gesetzt. Sein Gegenspieler deckt vier Zweien auf und räumt ab. Tasos, seit Monaten ein Nervenbündel, rastet aus, er wirft den Tisch um, wütet gegen die Mitspieler und wird von den Sicherheitsleuten rausgeworfen. Zu Hause bei seiner Freundin kommt es zum finalen Streit, sie verlässt ihn. Das gibt ihm den Rest. Er geht los, sich Hilfe zu holen, beginnt eine Therapie, rappelt sich langsam wieder auf, sucht einen Ausbildungsplatz.

Das Gegenteil des Spiels ist nicht der Ernst, sondern die Wirklichkeit. Jeder, der aus dem Spielsalon kommt, kennt das Erschrecken vor dem Alltag, in dem Marktverkäufer ihre Fische feilbieten, Mütter ihre Kinderwagen schieben und zu Hause unbezahlte Rechnungen warten. Ein Jahr ist vergangen seither. Er hat nicht mehr gespielt.

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