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Kultur: Spiel’s noch einmal, Simon

Rita Hayworth wünschte sich von ihm in Paris immer „Autumn in New York“. Inzwischen steht Simon Schotts Piano in München – und noch immer in einer Bar

Der schwarze Schlapphut. Mit dem ist er berühmt geworden damals in der Pariser Nachkriegsszene, als er jeden Abend in Harry’s New York Bar am Klavier saß und Evergreens spielte oder Jazznummern von Gershwin bis Cole Porter. Je nachdem, was die Gäste gerne hörten. Berühmtheiten waren unter ihnen, Rita Hayworth zum Beispiel mit ihrem Ali Khan. Sie bestellte sich immer „Autumn in New York“. Eine wunderschöne Frau und oft traurig. Traurige schwarze Augen. Viele sind traurig, wenn sie in eine Bar kommen. Deswegen kommen sie ja, weil sie die Traurigkeit loswerden wollen. Und dann fangen sie zu reden an. Stehen am Klavier mit einem Glas in der Hand und sind auf einmal ganz locker. Man muss sie bezaubern, sagt Simon Schott, der Barpianist. Der Jimmy, wie ihn damals alle nannten – der mit dem Hut, der die Seelen und die Tasten streicheln konnte. Und gut zuhören.

Nur der Humphrey Bogart, der war ein schwieriger Fall. Der kam immer mit dem gleichen versteinerten Gesicht und wünschte sich „Manhattan“, und danach hatte er immer noch das gleiche versteinerte Gesicht. Er lächelte nie. Er trank viel. Coco Chanel, die nervöse Modeschöpferin mit dem interessanten Profil, begleitet von dem ebenfalls nervösen Komponisten Igor Strawinsky, wollte „I’m confessing I love you“ hören. In Bar-Stimmung wurde sie so fidel, dass sie manchmal Modeschauen an Ort und Stelle improvisierte, und der Jimmy spielte und spielte. Sie mochten ihn alle, obwohl er Deutscher war, was so bald nach dem Krieg nicht als Empfehlung gelten konnte.

„Das sind alte Geschichten, lange her“, sagt Simon Schott auf dem Weg ins Hotel Vier Jahreszeiten in der Münchner Maximilianstraße. Es schneit. Wir gehen durch Matsch an luxuriösen Schaufenstern vorbei. Die Maximilianstraße ist Münchens teuerste Meile, ein Paar Stiefelchen bei Prada kosten 750 Euro. Übertrieben, findet Schott. Vieles heute findet er übertrieben, auch diese gewisse Hochnäsigkeit ganz allgemein. „Früher, in den Vierziger- und Fünfzigerjahren war der Umgang miteinander schlichter. Bei Harry’s war man so hautnah an der Oberschicht, das gibt’s heute nicht mehr. Die Prominenz und die Reichen schotten sich ab. Undenkbar, dass einer wie Sartre einfach reinkommt und sich mit seiner Simone de Beauvoir an irgendeinen freien Tisch setzt …“ Er lacht. „Übrigens haben diese beiden fast ununterbrochen gestritten, daran erinnere ich mich. Und zwar laut.“

Siebzehn Jahre hat Simon Schott in Paris verbracht. Jetzt spielt er jeden Tag von fünf bis acht Uhr im Vier Jahreszeiten. Es ist kurz vor fünf, als uns die gläserne Drehtür in die Vorstufe zum Paradies befördert. Es gibt um diese Stunde keinen schöneren Ort als die Lobby des vornehmen, ein wenig altmodischen Hotels. Von der grauen Straße weg in sanftes goldenes Licht, sehr bekömmlich für den Teint der Gäste, die nicht mehr ganz jung sind, aber elegant. Silberlöffelchen klirren. Man unterhält sich gedämpft, lacht dezent. Die Dame in dem Samtsesselchen linker Hand raucht ihre Zigarette aus einer langen Zigarettenspitze.

Simons Schotts Flügel steht auf der Empore vor den matt erleuchteten Lifttüren. Von hier überblickt er die ganze Halle. Er kennt jeden Hotelangestellten, er kennt die hübschen Mädchen in schwarzen Frackjäckchen, die Teekannen und hausgemachte Champagnertorte spazieren tragen. Viele Hotelgäste kennt er. Manche bleiben bei ihm stehen, freuen sich, wenn er eine bestimmte Melodie für sie spielt.

Mit einer zärtlichen Bewegung klappt er den schwarz glänzenden Deckel über den Tasten auf. Nimmt auf seinem runden Hocker Platz. Manchmal sitzt er etwas gebeugt da, so ein Klavierhocker hat ja keine Lehne, und manchmal hat er Kreuzweh. Aber das hat er auch, wenn er daheim auf dem Sofa liegt. Kein Grund zur Klage. Er liebt es, hier zu sein. Er liebt dieses Instrument, das seine Hände so mühelos beherrschen. Er liebt die Hotelatmosphäre, es ist wie auf einem Schiff, sagt er, eine Welt für sich. Eine kostbare, komfortable Welt. Seit 21 Jahren ist hier sein Arbeitsplatz. Er ist 85 Jahre alt.

Der beste Barpianist der Welt, sagen Kenner, die ihn einst in Harry’s und bei Pariser High-Society-Festen erlebt haben. Er hat ja auch für den Herzog von Windsor privat gespielt, in dessen Villa am Bois de Boulogne. Okay, aber als Bester möchte er sich nicht bezeichnen. Er hat so viele hervorragende Barpianisten gehört, in London, Paris, New York – zu deren Klasse zu gehören, das reicht. Aber ganz bestimmt ist er der älteste Barpianist, der seinen Job noch immer macht. Und den verwegenen schwarzen Schlapphut hat er noch auf. Hinten unter der Krempe schaut ein graues Haarschwänzchen hervor.

Er spielt ohne Noten, ganz versunken und hat doch gleichzeitig die Menschen um sich herum im Auge. Er schaut ihnen gern zu, wie sie kommen und gehen. Einmal stieg Michail Gorbatschow aus dem Lift, beschattet von einem Rattenschwanz von Leibwächtern. Da spielte Simon Schott schnell etwas Russisches, „Moskauer Nächte“, und der damalige Herr des Kreml blieb stehen, trat näher und bedankte sich mit einem herzhaften Händedruck. „Ein freundlicher Politiker“, sagt Schott, mit der Betonung auf freundlich, weil er andere auch vorbeistolzieren sah.

Auch Maggie Thatcher war mal Hotelgast während einer Konferenz. In irgendeiner Zeitung hatte er gelesen, dass ihr Lieblingslied „A Nightingale sang on Berkeley Square“ war. Das spielte er, als sie mit Begleitung an ihm vorbeiging. Sie unterbrach das Gespräch, verharrte, bis das Lied zu Ende war. Dann lächelte sie und hob zum Gruß ihre behandschuhte Hand. Sie sah viel hübscher aus als später im Fernsehen, wo ein paar Sätze ihrer Rede übertragen wurden. „Da war sie wieder die Eiserne Lady“, sagt Schott. „Aber mir gegenüber war sie einfach nett.“ Bezaubern, ja, das kann er immer noch.

Seine Idole waren Davis und Garner

Manchmal besuchen ihn Kinder, die sich bei ihren teetrinkenden Eltern oder Großeltern langweilen. Sie stellen sich neben ihn und schauen seinen Fingern zu. Ein kleines Mädchen, das sich mit Tonleitern plagt und mit einer Sonate von Diabelli, sagt: „Aber es geht nicht so schnell, nicht so schnell wie bei dir.“ Und Simon Schott tröstet: „Bestimmt kannst du das auch mal. Weißt du, Klavierspielen ist das Schönste, was es gibt.“ Das kleine Mädchen darf ein paar Takte anschlagen. Dann flattert es die Emporestufen hinunter zur Oma und findet den Pianoforte-Unterricht vielleicht nicht mehr so schlimm.

Er selbst hat nie Klavierunterricht gehabt. Er ist am 28. November 1917 als Sohn eines Dorfschullehrers geboren und in dem kleinen bayerischen Nest Walkertsaich groß geworden. Es gab da eine Volksschule, einen Lehrer und sieben Klassen in einem Raum. „Mein Vater hat alle unterrichtet, und die großen Schüler kümmerten sich um die kleinen. So ist das gewesen. Lesen und Schreiben haben wir jedenfalls gelernt.“ In dem einzigen Schulzimmer gab es auch ein verstimmtes Klavier. Als der kleine Simon gerade fünf war, setzte er sich dran und spielte. Einfach so. Auf Anhieb konnte er eine Melodie, die er am Radio gehört hatte, nachspielen. Fand sehr schnell die richtigen Akkorde, Takte und Synkopen. Er konnte die Tonarten wechseln, bald benützte er nicht nur die weißen, sondern auch die schwarzen Tasten, und sobald seine kurzen Beine sich gestreckt hatten, auch die Pedale. Ohne zu wissen, warum. Machte Musik, weil es so leicht war, so wunderschön. Er war das, was man ein Naturtalent nennt. Und später ein Naturgenie.

Später. Dass er Barpianist wird, war nicht geplant. Das kam eben so. Wie vieles in seinem Leben einfach so kam aus momentaner Notwendigkeit. Mit elf Jahren verließ er das Dörflein Walkertsaich, um in München aufs Gymnasium zu gehen. Das war in den Zwanzigerjahren, in der Großstadt lernte er die amerikanische Musik kennen, Jazz, Swing. Die großen amerikanischen Jazzsolisten, Sidney Bechet, Miles Davis, Louis Armstrong, Erroll Garner, die er später alle persönlich kennen lernte, mit denen er Nächte durchjammte, waren seine großen Idole. Die Schellackplatten mit ihrer Musik kosteten damals ein Vermögen. Natürlich reichte das Taschengeld nicht. Um sie kaufen zu können, musste er als Gymnasiast Geld verdienen. Und womit? Ganz klar – mit Klavierspielen in kleinen Schwabinger Bars. Das war der Anfang.

Amerikanische Musik galt den Nationalsozialisten, die inzwischen an der Macht waren, als Negermusik, Rassenschande, Dreck. Schon allein deshalb hasste er die Braunen. Er war nie ein politisch denkender Mensch, obwohl es ihn später sogar zur französischen Resistance verschlug. Er wollte Swing tanzen, Gershwin spielen. Duke Ellington hören. Weiter nichts. „Wie blöd muss man sein, um so was zu verbieten?“

Nach dem Abitur wird er Soldat. Wie die heutigen Rekruten hatten sie auch damals das Maßband, von dem sie an den letzten 150 Tagen einen Zentimeter pro Tag abschnitten. Als es fast fertig war, das Maßband, fing der Krieg an. Der Gefreite Simon Schott marschierte als Rechnungsführer seiner Kompanie in Frankreich ein. „So ein Krieg, der dauert halt gut seine fünf Jahre“, würde der brave Soldat Schweijk dazu vielleicht sagen. In würdiger Nachfolge des Schweijk hat Simon Schott ein Buch über seine Kriegserlebnisse geschrieben. Es liest sich richtig lustig, wie er quasi aus Versehen in den französischen Widerstandskampf hineinrutscht, dabei war es natürlich absolut lebensgefährlich. Kurz vor der Entdeckung „entfernte er sich von der Truppe“ – im Klartext: er haute ab, floh in französischer Uniform ziellos irgendwohin. Wusste, dass er bei Ergreifung von den Deutschen als Deserteur und Hochverräter erschossen werden würde und wegen seines deutschen Akzents von den Franzosen als Spion. Freiwild. Eine Sache, die man erst hinterher lustig beschreiben kann, wenn man nicht erschossen worden ist. Schott, der flüchtige Hase, wurde nicht erschossen, weil er immer rechtzeitig einen Haken schlug. Und weil er ein hübscher Bursche war, dem hübsche Französinnen aus reinem Mitleid des öfteren Unterschlupf gewährten.

Die letzte, bei der er sich in Paris versteckte, hieß Janine. Er hat sie und die anderen alle nie vergessen. „Frauen“, sagt er, „sind etwas Wunderbares. Das Wunderbarste überhaupt. Ohne Frauen kann ich mir mein Leben nicht vorstellen. Die ganze Welt wäre schrecklich ohne Frauen … “

Paris im Frühjahr 1945, die Amis waren da, der Krieg war vorbei und die Luft war voller Swing und Blues. Hier wollte er bleiben. Die Frage war nur, wovon er leben sollte. Er konnte ja eigentlich nichts – außer Klavierspielen. Also erinnerte er sich an seine Gymnasiastenzeit in Schwabing. Er ging in Montmartre von Kneipe zu Kneipe und fragte: „Dürfte ich einmal Ihr Klavier ausprobieren?“ Er durfte. Und meistens durfte er gleich weiterspielen, für fünf Francs die Stunde und eine Zwiebelsuppe. Bald war er unter den Nachtvögeln berühmt. Der absolute In-Schuppen war Harry’s New York Bar. Da saßen die Promis drin. Eines Tages erkundigte er sich auch dort, ob er mal das Klavier … ? Und der Jimmy hatte Glück. Der bisherige Pianist war gerade ausgefallen, von da an spielte er jede Nacht von acht bis zwei Uhr. Zwei Uhr morgens natürlich.

Jimmy, der Glücksvogel. Wenn Simon Schott auf sein Leben zurückblickt, dann war das die allerschönste Zeit. Jung, frei, ohne Anhang, ohne Verpflichtungen oder Ziele in den Tag hineinleben – und in die Nacht. Ohne ans Geld zu denken. Die einzige Sicherheit war eine Schuhschachtel voller Zettel mit Adressen. Wo man spielen konnte, wo man sich was leihen konnte, wenn man klamm war. Es war ein Rausch – ohne Alkohol übrigens. „Dem Alkohol“, sagt er, „habe ich ja jede Nacht zugesehen, wie er in die Menschen hineinfließt, hineingeschüttet wird, was er aus den Menschen macht.“ Geraucht hat er auch nicht: „Wie wollen Sie, bitte, am Klavier rauchen? Bräuchten Sie drei Hände.“

Barpianist. Ein Mann für die Unterhaltung. „Wissen Sie, ich möchte Geschichten erzählen mit meiner Musik. Geschichten von Trauer oder Liebe oder Abschied, das möchte ich rüberbringen, unmittelbar zu den Zuhörern. Nicht vom Konzertpodium herunter. Dass in einer Bar geredet wird, gelacht, das stört mich nicht. Es ist für mich so was wie eine Begleitung im Hintergrund, es macht die Stimmung aus.“

„Schreib und streich“, sagte Simenon

Ein leichtes Leben – die siebzehn Jahre in Paris. Dann kehrte der Jimmy nach Deutschland zurück, war wieder der Simon Schott, heiratete, bekam zwei Söhne. Und fiel in ein tiefes Loch. Auf einmal wollte niemand mehr einen Klavierspieler hören. Die Pop-Musik beherrschte alles, Jazz und Blues, die amerikanische Musik wurde an den Rand gedrängt, Rock’n’Roll war angesagt. Es gab keine Jobs für einen Barpianisten.

„Sehr, sehr schwere Jahre“, sagte Schott. Um die Familie zu ernähren, nahm er jede Arbeit an, war Vertreter für Telefonbücher und Versicherungen, verkaufte Pianos, als ausschließlich Gitarren gingen, strich im Akkord Eisenträger an. Die Ehe ging auseinander, zerbrach wohl an der ständigen Geldnot. Und der Simon Schott wurde älter.

Er schrieb Bücher. Schon in Paris hatte er damit angefangen. Er schrieb Kriminalromane auf französisch, fand in Ernest Hemingway und Georges Simenon abends in der Bar fachkundige Berater. Hemingway sagte: „Was, du schreibst, wenn du nachts von hier nach Hause kommst? Schmeiß es weg. Du musst ausgeruht sein, frisch, ganz klar im Kopf. Am Nachmittag ein paar Stunden schreiben, das reicht!“ Simenon, der eine große Schwäche für das Barleben hatte und in seiner Anfangszeit in Paris als Barkeeper seinen Lebensunterhalt verdiente, war noch strenger: „Schreib, lies es durch und streich alle überflüssigen Wörter weg!“

Seine Bücher sind, mit einer Ausnahme, dennoch keine Bestseller geworden. Die Ausnahme, von der 12 000 Stück verkauft wurden, erschien unter dem Titel: „So spielen Sie Barpiano – frei und ohne Noten.“ Seine „Kriegserinnerungen eines außerirdischen Barpianisten“ fanden einen Verlag, der kurz darauf von der Bildfläche verschwand. Jetzt sucht Schott einen neuen Verleger. Komischer Titel, finde ich. Warum außerirdisch? „Weil ich immer“, sagt er, „wenn ich nachts in den Himmel schaue, mich den Sternen näher fühle als der Erde …“

Was das Klavier betrifft: im Moment ist Klaviermusik wieder in. Dafür haben die Gitarren schlechtere Zahlen. Ist eben immer ein Auf und Ab. Heute lebt Simon Schott in einem Reihenhaus im Westen Münchens. Einer der Söhne wohnt bei ihm, der andere ist im Ausland.

Eine Frau begleitet ihn auch jetzt. Eine sehr schöne junge Frau, die er vor einigen Jahren kennengelernt hat. Jeanette. Er erzählt, dass er einmal mit ihr in Düsseldorf war und auf dem Flughafen hörte, wie hinter ihnen ein Mädchen zu einem anderen Mädchen sagte: „Wow, muss der alte Knacker Kohle haben, wenn er sich noch so eine zulegen kann.“ Aber es ist nicht so, sagt er. „Wir sind gute Freunde, sehr gute Freunde. Mit Sex hat das nichts zu tun. Sie ist meine Gefährtin. Wir verstehen uns auf einer Wellenlänge, das habe ich noch mit keinem anderen Menschen erreicht.“

Nach jeder Stunde an seinem Flügel im Vier Jahreszeiten legt Simon Schott eine kleine Pause ein, setzt sich aufs weiche Sofa, trinkt einen Tee. Hat er je Lebensangst gehabt? Früher nicht. Heute weiß er, was er früher nie so realisiert hatte – wie wichtig Geld ist. In dieser Hinsicht, meint er, „bin ich ein Versager. Ich habe viel gearbeitet und es nie geschafft, viel zu verdienen …“ Er rückt seinen schwarzen Hut wieder schräg ins Gesicht. Seine Maske. Dann spielt er „Strangers in the Night“.

Ursula Friedrich

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